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Auf der Suche nach dem normalen Leben

1. Dezember 2011 – 21:39

Zum Weltaidstag verkĂĽndet UNAIDS weniger Neuansteckungen und besseren Zugang zu Medikamenten/ Die neue Herausforderung: Eine Generation von Teenagern, die mit dem Virus geboren wurden

„Wie geht’s?“ – Die flüchtige Frage gehört in Südafrika mit zur Begrüßung. Die 16-jährige Sibabalwe nimmt sie trotzdem ernst. „Alles cool!“, antwortet sie betont forsch und legt sofort nach: „Es fühlt sich normal an, HIV-positiv zu sein, also führen wir ein normales Leben.“ Die Schülerin ist Teil einer ganzen Generation südafrikanischer Teenager, die mit dem HI-Virus geboren wurden und dank einer verbesserten Versorgung mit antiretroviralen Medikamenten (ARVs) heute ein fast normales Leben führen können. Doch ihr Schicksal zeigt auch, dass die Pillen zwar das Virus zurückdrängen können, nicht aber die Probleme der Jugendlichen. In der Regel wachsen sie ohne Eltern auf und kämpfen dazu mit Vorurteilen sowie persönlichen Zweifeln – der Frage, warum gerade sie betroffen sind.

Südafrika ist weltweit das Land mit den meisten HIV-Infizierten, 5,6 Millionen Menschen tragen nach Angaben von UNAIDS, der Aids-Organisation der Vereinten Nationen, das Virus in sich. Mehr als jeder zehnte Südafrikaner ist damit HIV-positiv, jährlich verzeichnet das Land 400 000 Aids-Tote. Doch es gibt auch positive Nachrichten aus der Kap-Republik: Die Zahl der Neuansteckungen ist seit 1997, dem Gipfel der Epidemie, um ein Drittel zurückgegangen – Südafrika, dessen Ex-Präsident Thabo Mbeki noch öffentlich den Zusammenhang von HIV und Aids bestritt, ist plötzlich Vorreiter im Kampf gegen die Krankheit. Neben den immer noch schlecht angenommenen Verhütungsprogrammen ist dafür vor allem die bessere Verfügbarkeit lebensrettender Medikamente zuständig – in Afrika südlich der Sahara ist sie allein zwischen 2009 und 2010 um 20 Prozent gestiegen. Ein Erfolg, der auch das Überleben vieler mit dem Virus geborener Kinder sichert – und die Ärzte vor eine neue Herausforderung stellt. „In Südafrika hat die freie Verteilung von ARVs erst 2004 begonnen, vorher haben nur 30 bis 40 Prozent der infizierten Kinder überhaupt ein Alter von zwei Jahren überlebt. Sieben Jahre später sind die Kinder, die glücklich genug waren, gleich zu Anfang des Programms ARVs zu bekommen, neun Jahre und älter“, erklärt Dr. Paul Roux, leitender Kinderarzt am Universitätskrankenhaus Groote Schuur in Kapstadt, die Zunahme jugendlicher Patienten.

Die Kombination aus Pubertät und HIV ist brisant. „Die meisten dieser Jugendlichen haben psychologische Probleme“, sagt Sibabalwes Ärztin, Dr. Carol Baker. Am schwersten wiegt der Verlust der Eltern, noch dazu durch die Krankheit, die die Jugendlichen selbst in sich tragen. „Den Jugendlichen fehlt eine führende Hand, eine Vorbildperson“, sagt Baker. Sie trauern, haben Angst und werden depressiv. „Meine Mutter starb, als ich drei war, meinen Vater habe ich nicht einmal auf einem Foto gesehen“, erzählt der 18-jährige Nkosinathi. Er wirkt zurückgezogen, das komplette Gegenteil der auf den ersten Blick vor Selbstvertrauen sprudelnden Sibabalwe. Doch auch dieser Schein trügt. „Selbst Sibabalwe ist oft ziemlich niedergeschlagen, sie ist einsam in der Schule, hat keinen Freund und will von zuhause wegrennen“, sagt Baker.

Dass die beiden noch leben, verdanken sie der Johannesburger Ärztin, die sich im Jahr 2000 in ihrem kleinen Heimat-Dorf Hamburg in der Provinz Eastern Cape niederließ, eigentlich um in der Abgeschiedenheit künstlerischen Projekten nachzugehen. Der Ort hat seinen Namen von deutschen Siedlern, die ihn im 19. Jahrhundert gründeten. 2001 fing Baker in der örtlichen Klinik wieder an zu praktizieren, inzwischen arbeitet sie für sieben ländliche Kliniken gleichzeitig – als einzige Ärztin. „Es war eine kleine Gemeinschaft ohne Ärzte und die Leute waren am sterben“, begründet sie ihr Engagement. Doch selbst das war bald nahezu hoffnungslos. Ab 2004 diagnostizierte sie immer mehr Aids-Erkrankungen. Doch die ARVs wurden nur in großen Krankenhäusern ausgegeben. Das nächste ist 45 Kilometer entfernt, die Reise zu teuer für die meisten Menschen in Hamburg. Also gründete Baker einen Verein, beschaffte die Medikamente selbst und ließ ein Aids-Hospiz mit 15 Betten bauen, um ihre Patienten zu versorgen. Dort wohnt mit Nkosinathi heute nur noch ein Patient. Zwar gibt es immer noch viele Neuansteckungen, doch seit Beginn dieses Jahres dürfen landesweit auch kleine Kliniken wie die in Hamburg ARVs ausgeben – mit spürbaren Effekten. „Die Zeiten, in denen uns die sterbenden Menschen reingetragen wurden, sind vorbei“, sagt Baker heute. „Wir haben jetzt mit den Folgen zu tun.“ Das weiß auch Sibabalwe: „Diese Krankheit“, sagt sie, „ist nicht meine Schuld – ich wurde mit ihr geboren und ich werde auch mit ihr sterben“.

Erschienen am 1. Dezember 2011 in der Westfälischen Rundschau.