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Die Vergessenen

28. Mai 2016 – 13:03

Als Namibia 1990 unabhängig wurde, hofften auch die Farmarbeiter in den kargen Weiten des Landes auf eine bessere Zukunft. Heute leben sie in den gleichen Wellblechhütten wie eh und je. Der Optimismus ist gewichen, auch die Kinder sind im Teufelskreis der Armut gefangen. Und selbst das Wenige, das den verarmten Arbeitern an sozialen Leistungen zusteht, bleibt häufig unerreichbar.

Einsam sieht er aus, der Reiter in seinem blauen Overall. Niemand sonst ist zu sehen auf der schier endlosen Schotterpiste, hier in der Region Omaheke im Osten Namibias. In die Wüste, die der heutigen Verwaltungseinheit ihren Namen gibt, haben die Truppen der deutschen Kolonialisten einst die Angehörigen des Volks der Herero getrieben, weil die sich dem Landraub der Siedler widersetzten. Die etwas weiter südlich siedelnden Nama ereilte ein ähnliches Schicksal. Etwa 80.000 Menschen, manche Historiker sprechen von bis zu 100.000 Opfern, hat die schon damals offiziell als „Schutztruppe“ auftretende Imperialmacht ermordet. Wer nicht in den nahezu sicheren Tod durch Verdursten in die Wüste flüchtete, wurde in Konzentrationslagern durch Zwangsarbeit, Mangelernährung und fehlende medizinische Versorgung vernichtet. Dass dies der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts war, hat inzwischen – nach jahrzehntelangem Negieren – auch die deutsche Bundesregierung eingesehen. „Der Vernichtungskrieg in Namibia von 1904 bis 1908 war ein Kriegsverbrechen und Völkermord“, ließ das Auswärtige Amt im Juli dieses Jahres verlauten, ohne daran jedoch eine formelle Entschuldigung zu knüpfen.

Doch das Wüten der kaiserlichen Truppen wirkt sich auf die Nachkommen der Opfer von damals bis heute aus, auch auf den Reiter, der für sein dünnes braunes Pferd keinen Sattel, sondern nur eine Wolldecke hat. Der trockene Winterwind pfeift an diesem sonnigen Augusttag durch die dörren Büsche und Gräser, der junge Mann hat seine Augen unter der tief gezogenen Wollmütze zusammengekniffen. „Das Leben ist hart. Wenn du nicht auf eigenen Beinen stehen kannst, wirst du nicht überleben“, sagt er. Er ist landlos, obdachlos und damit auch im demokratischen Namibia von heute im Grunde perspektivlos und ohne Rechte. „Ich bin fast jeden Tag auf der Straße, auf der Suche nach einem Weg, zu überleben“, sagt der Mann, den der deutsche Filmemacher Thorsten Schütte in seiner 2015 veröffentlichten Dokumentation „The Forgotten“ (Die Vergessenen) zu Wort kommen lässt.

Entstanden ist der Film auf Verlang, einer „Resettlement Farm“ etwa 160 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Windhuk. Diese „Umsiedlungsfarmen“ sind vom namibischen Staat akquiriertes Agrarland, das an Menschen vergeben wird, die zu Zeiten der Rassentrennung unter südafrikanischer Herrschaft bis 1990 benachteiligt waren. Verlang wurde dabei in acht Parzellen unterteilt, auf denen die neuen Landeigner wirtschaften können. Die „Vergessenen“ bei diesem Schema sind die Farmarbeiter, die für die Vergabe von Land schon deshalb höchst selten in Frage kommen, weil das dafür zugrunde liegende Gesetz von den Bewerbern für eine Farm neben anderen Voraussetzungen Lese- und Schreibfähigkeiten fordert – also die Bildung, die das Apartheidregime den Landarbeitern weitestgehend verweigert hatte. Damals wie heute leben sie mit ihren Familien in selbst zusammengezimmerten Wellblechhütten oder Zelten, für die sie bei starken Regengüssen von den Farmherren hin und wieder eine Plastikplane bekommen. Sie sind abhängig von der Güte der Grundbesitzer.

„Als das Land unabhängig wurde haben wir gesagt: ‘Jetzt werden wir besser leben und uns selbst versorgen können’. Aber ohne Arbeitsplätze wird es nicht besser. Ohne Job verhungerst du. Und wenn du verhungerst, gehst du los und stiehlst“, erklärt ein Farmarbeiter die Misere der Abgehängten. In kalten Zahlen liest sich das wie folgt: 55,8 Prozent der 2,3 Millionen Namibier leben nach den Ergebnissen der Nationalen Studie zu Haushaltseinkommen und Ausgaben von 2009/2010 – den jĂĽngsten verfĂĽgbaren offiziellen Daten – unterhalb der Armutsgrenze, Sie mĂĽssen mit umgerechnet zwei US-Dollar oder weniger auskommen. 34,9 Prozent der Bevölkerung haben gar höchstens einen US-Dollar zur VerfĂĽgung. Was das bedeutet, beschreibt ein anderer Landarbeiter, die Arme höflich-schĂĽchtern hinter dem RĂĽcken verschränkt: „Auf diesen Farmen ist es sehr schwer fĂĽr uns Arme“, sagt er und offenbart dabei die LĂĽcke, die einer seiner oberen Schneidezähne hinterlassen hat. „Es macht Angst, zwei, drei Tage kein Essen zu haben. Bis man vielleicht auf der nächsten Farm etwas zu essen bekommt. Das kann drei, vier Monate so gehen, bis man einen Job findet.“ Frau und Kinder warten auf einem klapprigen Wagen, vor den zwei Esel gespannt sind, sein faltiges Gesicht ist von der Arbeit gezeichnet, die Stimme leise und mĂĽde.

Immanuel Xoagub, der Protagonist in Schüttes Film, hat seit dem Jahr 2008 keine ausreichende Arbeit mehr, ein Arbeitsunfall hat ihn den Job gekostet. „2007 kam Elizabeth und hat mich um Hilfe gebeten, weil sie nur einen Arbeiter hatte“, erinnert er sich. Zunächst arbeitete er für seine Chefin als Hirte. „Ich führte das Vieh morgens zur Tränke und brachte es abends zurück. Ich passte auf die Kühe auf, pumpte das Wasser hoch und half mit den Maschinen“, erzählt Xoagub. Als seine Chefin merkte, dass er Maschinen reparieren konnte, stellte sie ihn fest an. Die Farmerin müsste die Geräte nicht mehr in die weit entfernten Städte Gobabis oder Windhuk bringen lassen, und Xoagub hätte ein festes Auskommen – das war die Abmachung. Bis zu jenem Tag, als seine Hand in einer Wasserpumpe eingeklemmt wurde. „Das Blut floss regelrecht. Ich habe das Kopftuch meiner Frau genommen und meine Finger damit umwickelt“, sagt Xoagub, während er immer ernster wird. Sein durchdringender aber dennoch leerer, trauriger Blick hat einen Grund: „Der Unfall war um 9 Uhr morgens, erst um 10 Uhr abends war ich im Krankenhaus. Ich habe den ganzen Tag geblutet. Der Besitzer der Farm war hier, und auch sein Auto war hier an diesem unglücklichen Tag“, erzählt er. Er ringt um Fassung, schweigt und fügt schließlich nur noch an: „So ist es passiert.“

Die Fingerkuppen an Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand fehlen ihm seitdem. Die Wunde wurde zwar letztlich im Krankenhaus genäht, anfangs schien die Hand auch zu heilen, doch dann wurde der ganze Arm taub. Er habe keine Kraft darin, klagt Xoagub heute. Tagsüber sei es zwar auszuhalten, doch nachts bekomme er kaum Schlaf. „Ich leide mit diesem Arm. All die Sachen, die ich früher machen konnte, kann ich heute nicht mehr machen: Zäune reparieren, Bauarbeiten, Maschinen auseinandernehmen und reparieren“, sagt der 49jährige und fügt traurig an: „Das habe ich alles gemacht.“ Ein paar Kühe laufen im roten Sand zwischen den kargen Büschen umher, mühsam und umständlich versucht Xoagub, einen Draht am Weidezaun wieder festzumachen, kann aber kaum die Zange halten.

„Die Leute haben mir gesagt, dass ich wegziehen soll“, erzählt er. „Die einzige Arbeit, die ich seitdem machen kann, ist auf Vieh aufzupassen.“ Doch dafür bekommt er nur einen Hungerlohn und ein paar Almosen. „Ich bekomme nur Versprechungen: Wir werden dir dies geben, wir werden dir das geben. Nimm ein bisschen Maismehl, nimm etwas Tee und Zucker. Am Ende habe ich 100 Namibia-Dollar im Monat“, erzählt er. Umgerechnet sind das etwa 6,70 Euro.

„Eine Behinderung, selbst wenn sie als Resultat eines Unfalls auftritt, ist nach dem Arbeitsgesetz ein KĂĽndigungsgrund“, erklärt der Arbeitsrechtler Herbert Jauch und hebt die Absurdität noch einmal hervor: „ein legaler KĂĽndigungsgrund“. Jauch war GrĂĽndungsdirektor des gewerkschaftsnahen Labour Resource and Research Institute (LaRRI), heute leitet er das Bildungszentrum der Metallarbeitergewerkschaft MANWU. Die Tageszeitung The Namibian beschrieb ihn im Vorspann eines Interviews einmal als „engagierten Gewerkschafts-Denker“ und „einzigartig beständigen Anwalt der Interessen der Arbeiter und der Armen“. Doch die Realität, die er beschreibt, klingt brutal. „Ein Arbeitgeber kann sagen: ‘Diese Person hat nicht mehr die Fähigkeit, fĂĽr mich zu arbeiten, daher kann ich ihn jetzt entlassen.’“ Immerhin stĂĽnde dem Arbeiter dann aber eine Erwerbsunfähigkeitsrente zu. „Das ist im Gesetz klar definiert“, sagt Jauch.

Immanuel Xoagub hat dieses Gesetz nie gelesen, er hatte nie die Chance, lesen und schreiben zu lernen. Gehört hat er dennoch davon. Nach seinem Arbeitsunfall fuhr er nach Windhuk und ging ins Büro der zuständigen Kommission für Soziale Sicherheit. Dort bekam er etwas Geld und die Auskunft, er solle sich wieder bei seinem Arzt in Gobabis vorstellen, dem Verwaltungssitz seiner Heimatregion Omaheke. Von Verlang nach Gobabis sind es gut 120 Kilometer, für Xoagub ebenso eine halbe Weltreise, wie die Tour nach Windhuk. Als er in der Provinzhauptstadt ankam, war der Arzt nicht mehr da. Das Klinikpersonal schickte ihn weiter zum lokalen Büro des Sozialministeriums, doch auch dort wollte ihm niemand helfen. „Letztendlich“, sagt Xoagub rückblickend, „habe ich aufgegeben“.

„Farmarbeiter sind die am meisten vernachlässigten Bürger in Namibia“, sagt der Menschenrechtsaktivist Uhuru Dempers. „Sie arbeiten, aber sie bleiben arm. Das Einkommen, das sie verdienen, ist sehr, sehr gering.“ Es gebe kaum ein Kind eines Farmarbeiters, das es auf eine weiterführende Schule oder gar an eine Universität schafft, erklärt er. „Das ist nahezu unmöglich. Unter den bestehenden Bedingungen, kann ein Farmarbeiter nur davon träumen, dass sein Kind einen Hochschulabschluss erreicht.“ Dempers, der sich in der Koalition für ein Bedingungsloses Grundeinkommen (BIG) engagiert, redet ruhig und nüchtern, doch seine Sätze sind auf den Punkt formuliert, sie wirken wie Nadelstiche, adressiert an die namibische SWAPO-Regierung, die eigentlich einmal als sozialdemokratische Partei angetreten war, das Land zu erneuern. Den Status quo nach 25 Jahren in Freiheit fasst Dempers so zusammen: „Die Mehrheit der Menschen hier ist nicht in der Lage, ihre Grundbedürfnisse zu stillen.“

Für Immanuel Xoagub sind das schon längst kaum noch seine eigenen Wünsche und Nöte, seine größten Sorgen gelten seinen Kindern. Er hält sein altes Handy hoch in die Luft. Das Freizeichen ist immer wieder unterbrochen, der Empfang schlecht. Nach endlosen Klingeln meldet sich eine Stimme am anderen Ende, ein Beamter der Schulbehörde. Auf Afrikaans, der Sprache der einstigen burischen Besatzer, die in Namibia zur Lingua franca geworden ist, fragt Xoagub nach jemandem, der seine Muttersprache Damara spricht. Der Beamte holt einen Kollegen, dem Xoagub schließlich sein Problem schildern kann. Vier seiner fünf Kinder gehen in Witvlei zur Schule, der nächsten Kleinstadt, 90 Kilometer entfernt von Verlang. Doch die Familie kann die Schulgebühren und Internatskosten nicht bezahlen, nicht einmal für Hygieneartikel wie Seife hat Xoagub genügend Geld. Murmelnd hört der Beamte zu, bis Xoagub schließlich fragt, ob er Unterstützung bekommen kann. „Eijeijeijei“, seufzt der Beamte, dann plötzlich ein „Tut tut tut“, die Leitung ist abgesprochen. Eine Frauenstimme erklingt: „Sie haben kein ausreichendes Guthaben, um Anrufe zu machen, vielen Dank, dass Sie MTCs Prepaid-Service nutzen. Auf Wiedersehen.“ Frustriert steckt Xoagub sein Telefon ein. Im Hintergrund kocht seine Frau in schwarzen gusseisernen Töpfen über offenem Feuer das Mahl des Tages. Im roten Sand liegt eine nackte Plastikpuppe, ein Bein ist gebrochen, ein Arm abgerissen.

„Die Geldprobleme werfen mich aus der Bahn, ich kann die einfachsten Sachen nicht bezahlen“, klagt Xoagub. Am meisten quält ihn, dass er nicht für seine Kinder sorgen kann. Mühsam macht er mit seinem gesunden linken Arm den Eselskarren fertig. Die Familie will nach Witvlei aufbrechen, um dort bei der Schule vorzusprechen. Die Ferien sind vorbei und Xoagub hofft, dass seine Kinder doch noch einmal aufgenommen werden, auch wenn er nicht für sie bezahlen kann. Elf Stunden brauchen sie für die 90 Kilometer auf den Sand- und Schotterpisten. Es hat noch nicht geregnet, das Gras ist ausgedörrt und die Esel sind entsprechend schwach. Doch es hilft nichts. „Die Kinder müssen in die Schule, damit sie die Früchte von morgen ernten können“, sagt Xoagub. Beim letzten Mal half die Schule ihm aus, erzählt er, doch dieses Mal müsse er voll bezahlen, das zumindest hätte man ihm vor den Ferien gesagt. Die Ungewissheit nagt sichtlich an ihm, die Stimme ist gedämpft und traurig.

In Witvlei angekommen, erklärt die Internatsleiterin der Nossob-Grundschule ihm haargenau die Gebührenstruktur, die einzelnen Posten für Schule und Internat sowie die staatlichen Zuschüsse. Auf ihrem Tisch liegt neben einem Schlüsselbund nur eine Preisliste mit der unmissverständlichen Aufschrift „Keine Verhandlungen über Internatsgebühren“, auf die sie permanent mit ihrem Finger tippt. Unter dem Strich bleibt ein Betrag von 551 Namibia-Dollar, den man in zweierlei umrechnen kann: Etwa 37 Euro oder fünfeinhalb Monatslöhne für Xoagub. Der hört sich alles geduldig an, um schließlich festzustellen: „Ich will ehrlich sein, ich habe nicht einmal zehn Dollar. Ich kann meinen Kindern nicht mal einen Waschlappen kaufen.“

„Ok, ich verstehe“, sagt die Internatsleiterin dann etwas überraschend. „Wir werden sehen, wie wir Ihnen helfen können. Wir können keine Kinder ablehnen, die zur Schule gehen wollen und keine Unterkunft haben“, stellt sie mit einem Seufzen klar. „Ich werde beim Schulleiter für Sie plädieren.“ Für Xoagub beginnt damit ein Behördenmarathon, den er sich ohne die Unterstützung des Filmteams nicht zugetraut hatte und den er sich auch nicht hätte leisten können. Von Witvlei trampt er die 60 Kilometer zur Bildungsbehörde nach Gobabis, mit dem Auto eine gute halbe Stunde Fahrt auf der Teerstraße, doch weil von Trampern in Namibia normalerweise Benzingeld verlangt wird, wäre nicht einmal diese Beförderungsoption für Xoagub ohne Hilfe erschwinglich. Zudem habe er dort bisher keine guten Erfahrungen gemacht, sagt er. Lange schon habe er die Behörde um Unterstützung gebeten, geholfen worden sei ihm nie.

Der Beamte, ein stabiler Mittvierziger im weißen Hemd mit offenem Kragen, erklärt, dass nach dem Bildungsgesetz zunächst die Schulleitung eine Ausnahme von der Gebührenpflicht empfehlen müsse. Dort gebe es auch ein entsprechendes Formular, das die Schule dann an die Behörde weiterleiten könne. „Immanuel muss also gar nicht hierherkommen“, sagt der Mann – wohlgemerkt der Journalistin Matilde Kulo, die Xoagub begleitet. Mit ihm selbst spricht er nicht, auch wenn er genau vor ihm sitzt. Nur über ihn. Der Beamte nennt ihn auch nicht Herrn Xoagub, für ihn ist er – der Eindruck lässt sich nicht verdrängen – der arme Immanuel, der Farmarbeiter, der Ahnungslose, der untergebene Bittsteller.

„Wir haben eine Gesellschaft die von Ungleichheit geprägt ist. Kolonialismus und Apartheid waren nichts anderes als institutionalisierte Ungleichheit, auf allen Ebenen – Hautfarben, Geschlechter und daraus resultierend soziale Klassen“, sagt der Arbeitsrechtler Jauch. „Wenn man nun ein Land ĂĽbernimmt, das so tiefe Gräben aufweist, dann gibt es zwei Möglichkeiten, damit umzugehen“, erklärt er. „Entweder sagt man: ‘Vergebt und vergesst, lasst die Vergangenheit Vergangenheit sein!’ Oder man sagt: ‘Weil wir so groĂźe Ungleichheit haben, bedarf es eines systematischen Programms der Umverteilung – zugunsten der Armen.’“ Jauchs nĂĽchterner, erklärender Redestil weicht langsam einem des emotionalen Appells. Er spricht von benötigten staatlichen Interventionen bei der Gesundheitsversorgung, im Schulsystem oder im staatlichen Wohnungsbau – und von einem Steuersystem, durch das die Superreichen – in Namibia in der Regel die einstigen Profiteure von Kolonialismus und Apartheid – fĂĽr die GrundbedĂĽrfnisse der Armen aufkommen könnten. Auch Jauch fordert ein bedingungsloses Grundeinkommen als „grundlegendes ökonomisches Recht zum Ăśberleben“. Man könne damit sagen: „Wie wollen es nicht akzeptieren, dass in einem Land mit den Ressourcen, wie Namibia sie hat, Menschen aus MĂĽlleimern essen.“ Doch der Gewerkschaftsexperte weiĂź auch, woran es hakt im Land, denn „das“, sagt Jauch, „das setzt einen politischen Willen voraus“. Und es bedeute „in einer von ungebremstem Freihandelskapitalismus dominierten Welt“ eben auch, dass man gegen die herrschende Ordnung agiere. „Das hat Namibia nicht gemacht“, sagt er. „Wir haben mitgespielt. Wir haben die Privilegien einiger Weniger in unserer Verfassung festgeschrieben.“ Im Prinzip habe die Regierung die Devise ausgegeben: „Egal, wie ihr euren Reichtum angehäuft habt, es ist eurer, fĂĽr immer. Egal, ob ihr ganze Familien ermordet habt, um eure Farm zu bekommen – historisch gesehen –, sie bleibt eure.“

Für Menschen wie Immanuel Xoagub bleibt in diesem System nur ein Leben in Armut – und genau die erschwert es ihm, überhaupt an die wenigen staatlichen Leistungen zu kommen, die ihm zustehen. Wie von dem Beamten in Gobabis verlangt, fährt er zurück nach Witvlei. Dort erklärt ihm der Schulleiter, ein fülliger Mann in blauem Karohemd mit lila Krawatte unter der offenen schwarzen Lederjacke, dass Eltern, die arbeitslos sind, bei der Schulleitung einen Erlass der Schulgebühren beantragen können. Seine Schule werde ihm also beim Schreiben des Antrags helfen, brauche dazu aber einen Nachweis der Mittellosigkeit, wofür bereits eine beglaubigte Selbstauskunft bei der Polizei ausreiche. Warum Xoagub diese Auskunft in den Jahren zuvor niemand erteilt hat, sagt der Mann nicht. Xoagub jedenfalls läuft zur lokalen Polizeidienststelle und schildert der jungen Beamtin hinter dem vergitterten Empfangstresen sein Anliegen. Die Frau nimmt seine Aussagen zu Protokoll und lässt ihn das Schreiben signieren. Er drückt dazu seinen rechten Daumen auf ein Stempelkissen und anschließend fest auf das Blatt Papier.

Eine Schulsekretärin muss dann noch Bescheinigungen für seine vier schulpflichtigen Kinder ausstellen, dann fährt er – wiederum unterstützt von der Filmcrew – zurück nach Gobabis. Dort zeigt sich der Beamte der Schulbehörde „sehr zufrieden“ mit den Papieren, alles sei in Ordnung und vollständig. Aber, er spricht Xoagub inzwischen selbst an: „Sie sind etwas spät dran, für nächstes Jahr müssen Sie bereits dieses Jahr den Antrag stellen, damit es keine Probleme gibt und die Kinder des Internats verwiesen werden.“ Er erklärt ihm noch, dass die Schulbehörde keinerlei Versorgung für die Schüler wie „Seife und all das“ bereitstelle, Xoagub sich dazu aber an den Sozialarbeiter an der Schule wenden könne. Zum Abschied hält der Beamte die Hand des Farmarbeiters lange fest und gibt ihm einen Satz mit auf den Weg: „Jetzt, da ihre Kinder frei zur Schule gehen können, müssen Sie sie bitte motivieren, sehr fleißig zu lernen.“

Der Pathos des Beamten hat mit der Realität der meisten Farmarbeiterkinder wenig zu tun. Oft müssen die sich ihre Verpflegung erbetteln. Weil sie dazu in den Straßen der Stadt umherziehen, so berichtet die Frauenrechtsaktivistin Rosa Namises, werden sie von den wohlhabenderen Einwohnern als „Here-they-come-agains“, also „Hier-kommen-sie-wieders“, bezeichnet. „Sie haben kein Essen, sie haben keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung, ihre Menschenwürde ist nicht existent“, beschreibt sie die Situation der Kinder. Namises verzieht ihr Gesicht so, als wolle sie die Hässlichkeit dieser Situation, diese schreiende Ungerechtigkeit, mimisch untermalen. „Es dauert Jahre, selbst einen Vierjährigen wieder aufzubauen, um dieses Kind wie einen Bürger dieses Landes leben zu lassen“, erklärt sie mit brüchiger Stimme und feuchten Augen.

Xoagub weiß, was dieses Dasein, abgedrängt an den Rand der Gesellschaft, in der Praxis bedeutet. Und er kennt die Komponente Rassismus, aus Erfahrung. Er tippt die Nummer des Ministeriums für Arbeit und Soziales in sein abgewetztes Handy und streckt es in den Himmel. „Kann ich bitte mit jemandem reden, der Nama spricht?“ fragt er auf Afrikaans. Die Verbindung ist offensichtlich schlecht, der Mann am anderen Ende klingt genervt. „Sprich einfach Afrikaans, warum wollen Sie Nama sprechen!?“ entgegnet der Beamte. „Weil ich mehr erklären will“, sagt Immanuel, noch immer auf Afrikaans. „Sie wollen was?“, bellt der Staatsdiener da zurück. „Ich möchte mein Anliegen genau erklären, in meiner Sprache“, sagt der Farmarbeiter, immer noch ruhig und freundlich. „Dies ist ein englisches Büro, ich verstehe kein Nama“, rattert der Beamte daraufhin ins Telefon und schiebt gar zynisch die Frage nach: „Wie wollen Sie, dass man Ihnen hilft, wenn Sie kein Afrikaans oder Englisch sprechen?“

Der 1990 verabschiedeten Verfassung nach hätte Xoagub genau darauf ein Anrecht. Zwar ist Englisch als einzige Amtssprache festgeschrieben, die Familie der Khoekhoegowab-Sprachen, zu der Nama gehört, gilt jedoch als „Nationalsprache“ – genau wie Afrikaans und eine Reihe weiterer Sprachen. Nach der Oshiwambo-Sprachgruppe sind die Khoekhoegowab-Sprachen gar am zweithäufigsten verbreitet – der Volkszählung von 2011 zufolge werden sie in elf Prozent der Haushalte gesprochen, Afrikaans nur in zehn. Die anerkannten „Nationalsprachen“ gelten in den Regionen des Landes als optionale Amtssprache, in denen sie „von einem nennenswerten Anteil der Bevölkerung“ gesprochen werden. In Omaheke trifft das auf Nama unzweifelhaft zu.

Doch Xoagub beruft sich nicht auf die Verfassung, er fleht um Verständnis: „Ich habe auf Arbeit meinen Finger verloren, ich möchte das deutlicher in meiner Sprache erklären“, sagt er auf Afrikaans. „Rufen Sie jemand anderen an und erklären sie dem das“, antwortet der Beamte kalt, sagt noch genervt „Ok? Tschüss!“ und legt auf.

Farmarbeiter zählen nicht viel in Namibia, sie sind das schwächste Glied in einer Gesellschaft, die bei der Ungleichverteilung von Einkommen und Wohlstand weltweit ihresgleichen sucht. Eine der Hauptursachen für die extrem prekäre Rolle der Landarbeiter ist ihre Vereinzelung. „In der Isolation kannst du nichts ausrichten“, sagt auch Herbert Jauch und verweist auf den alten Gewerkschaftsslogan „United we stand, devided we fall“. „Die Entfernungen zwischen den Farmen verhindern regelmäßige Treffen, um Probleme zu diskutieren, wie andere Arbeiter in der Stadt das tun, um sich gegenseitig zu unterstützen“, erklärt er. Wenn gewerkschaftliche Organisation keine Option sei, dann bräuchten die Farmarbeiter eine Organisation, die im ganzen Land Rat und Hilfe anbietet und leicht zu erreichen ist, eine Telefonhotline oder ein Regionalbüro. „Eine Beratungsstelle für Rechtsangelegenheiten in Windhuk zu haben, löst das Problem kein bisschen – das muss dezentral und erreichbar sein.“ Sowohl die Gewerkschaften als auch Rechtshilfeorganisationen wie das Legal Assistance Centre (LAC) müssten darüber nachdenken, wenn sie etwas bewegen wollten. Jauch bringt die Idee einer Hotline ins Spiel – Handys sind das am weitesten verbreitete Kommunikationsmittel in Namibia –, über die Farmarbeiter an die richtigen Ansprechpartner in lokalen Zentren verwiesen werden könnten. „Aber das erfordert den Willen, es zu tun, und den Willen, diese Probleme systematisch anzugehen“, sagt Jauch energisch. Man müsse deutlich machen: „Das sind keine Nebenschauplätze, wir behandeln Farmarbeiter nicht als kleines Thema am Rande, sondern wir machen sie zum Zentrum unserer Arbeit.“

Dass etwas Hilfestellung und Beratung schon unter den derzeitigen gesetzlichen Gegebenheiten in Namibia einiges verändern könnte, zeit Xoagubs Beispiel. Nachdem er seine Kinder im Internat untergebracht hat, fährt er – auf Anraten des Filmteams, das ihn begleitet –, noch einmal nach Gobabis. Ziel ist das Regionalbüro des Ministeriums für Arbeit und Soziales, von dessen Mitarbeiter Xoagub am Telefon noch so barsch abgewiesen worden war. Es geht ihm darum, noch einmal einen Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente zu stellen. In Namibia ist das eine staatliche Leistung, die jeder beantragen kann, der dauerhaft arbeitsunfähig ist. Die erste Hürde ist jedoch schon der Weg zur Behörde. Geld für die Reise hat Xoagub nicht, die Journalisten bezahlen die Fahrt.

Im Büro des Ministeriums hat Xoagub Glück. Eine junge Beamtin bietet ihm freundlich einen Stuhl an und bittet ihn in seiner Muttersprache Nama, seinen Fall zu schildern. „Schauen Sie, solch ein Formular werden Sie bekommen“, beschreibt die Beamtin anschließend anhand eines bereits ausgefüllten Antragsbogens. Sie erklärt Xoagub, dass er von einem Arzt untersucht werden wird, der das Formular ausfüllen würde, ehe er, der Antragsteller, es zurück zum Büro des Ministeriums bringen müsse. Zwei bis drei Wochen würde die Bearbeitung dauern, erklärt die junge Frau, fügt aber auch gleich hinzu, dass er alle zwei Wochen anrufen könne, sollte es zu Verzögerungen kommen. Doch die „Glückssträhne“ reißt schon im Krankenhaus von Gobabis. Die Ärzte, so berichtet Journalistin Kulo, hätten sich Xoagubs Arm nicht einmal genauer angesehen. Mit dem Rat, sich physiotherapeutisch behandeln zu lassen, schickten sie ihn weg. Auf sich allein gestellt, wäre der Farmarbeiter an dieser Stelle erneut gescheitert. Doch das Filmteam bezahlt ihm die Untersuchung in einer Privatpraxis. Eine Ärztin zeigt Xoagub erstmals Röntgenbilder seiner Hände. Die Untersuchung belegt, dass er zu 75 Prozent arbeitsunfähig ist. Sieben Jahre nach dem Unfall kann Xoagub schließlich doch noch den Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente einreichen, ein halbes Jahr später, im April 2014, bekommt er erstmals die 600 Namibia-Dollar ausgezahlt, die ihm über all die Jahre monatlich zugestanden hätten. Inzwischen hat der im März 2015 vereidigte Präsident Hage Geingob den Rentensatz auf 1000 Namibia-Dollar (67 Euro) angehoben.

Doch Xoagubs Leben ist auch damit noch weit entfernt davon, sorglos zu sein. Das fängt schon beim Gesundheitssystem an. Seine Frau benötigt Medikamente gegen ihren erhöhten Blutdruck, die es in der Klinik in der nahegelegenen Ortschaft Nina auch gibt. Doch Nina gehört zur Region Khomas, die Farm Verlang aber liegt in der Region Gobabis. Die Xoagubs müssen daher in die wesentlich weiter entfernte Klinik nach Witvlei fahren – elf Stunden pro Richtung mit dem Eselskarren. Die Regionaldirektorin für das Gesundheitswesen in Gobabis beteuert im Interview zwar, dass Patienten nicht deshalb abgewiesen werden könnten, weil sie in einer anderen Region wohnen. Doch das ist die Theorie, die Xoagubs kennen die Praxis. Und sie hoffen, dass sie nie einen Krankenwagen benötigen, weil der nicht auf die Farm fahren würde. Der lokalen Klinik fehlen dazu schlicht die Ressourcen.

Wie lange sie auf Verlang überhaupt noch wohnen dürfen ist derweil die Frage, die Immanuel Xoagub am meisten umtreibt. Denn durch seine Behinderung hat er nicht nur seine Arbeit verloren, sondern damit auch das Recht, auf der Farm zu leben. Die Besitzer wollen die Familie nun rauswerfen, das Ministerium für Land und Umsiedlung hat bereits den Räumungsbefehl geschickt. Frau Xoagub holt das Schreiben aus der Wellblechhütte. Der Himmel über dem roten Sand ist strahlend blau, die Ruhe der Halbwüste fast greifbar, die Szenerie wirkt nahezu idyllisch. Doch das ist nur der passende Rahmen für all den Zynismus, den die Xoagubs ertragen müssen.

Knapp eine Minute lang klingelt das Telefon im Ministerium, ehe sich eine Frau bequemt, den Hörer abzunehmen. „Lands, guten Tag“, sagt sie knapp. Immanuel Xoagub grüßt freundlich und erklärt dann: „Ich habe einen Brief bekommen, in dem steht, dass ich Verlang verlassen muss. Aber ich habe Frau und Kinder und auch Nutztiere.“ Er versucht noch zu fragen, wo er denn nun hingehen solle, doch da fällt ihm die Beamtin schon ins Wort. „Schreiben Sie einfach einen Brief ans Büro, in dem Sie all die Dinge erwähnen, die sie sagen“, sagt sie so bestimmt wie gelangweilt. Xoagub will etwas erwidern, doch er kommt nicht zu Wort. „Schreiben Sie einen Brief ans Büro“, würgt die Beamtin ihn erneut ab. „Aber ich kann nicht schreiben“, sagt er schließlich doch noch, „und ich habe auch kein Geld, um in Ihr Büro zu kommen.“ Die Empathie der Staatsbediensteten hält sich in engen Grenzen. „Denken Sie das Büro kommt zu Ihnen, oder was, hmm Immanuel?“ fragt sie sarkastisch. „Nein, aber was soll ich tun?“ fragt der zurück und erhält zur Antwort: „Geh zu Fuß! Lauf nach Witvlei, lauf nach Gobabis. Das ist nicht das Problem unseres Büros.“ Als er noch einmal insistiert, kein Geld zu haben, um ins Büro zu kommen, folgt noch eine kaum verschleierte Drohung: „Wollen Sie, dass wir kommen, um uns anzuhören, warum Sie auf unserer Farm sind?“

Als Namibia 1990 nach jahrzehntelangem Unabhängigkeitskampf und über einem Jahrhundert der Unterdrückung durch Deutsche und Südafrikaner frei wurde, dachten auch Landarbeiter wie die Xoagubs, dass die Farmen nun die ihrigen werden könnten. „Wenn sie mir wenigstens einen anderen Ort geben würden, an den ich ziehen kann“, sagt Immanuel Xoagub heute leise. Er ist nervlich sichtbar am Ende, kratzt nervös an seinen verstümmelten Fingern. „Ich habe Vieh und Kinder“, sagt er, „ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.“

„Als Farmarbeiter besitzt du wirklich gar nichts“, sagt der Menschenrechtsaktivist Dempers. „Selbst die Hütte, in der du wohnst, gehört jemand anderem. An dem Tag, an dem du gefeuert wirst oder in Rente gehst, kannst du angewiesen werden, deine Klamotten in eine Tasche zu packen und die Farm zu verlassen.“ Der Arbeitsrechtler Jauch war dabei, als im Parlament in Windhuk darüber beraten wurde, die Rechte der Landarbeiter zu stärken. Eine Kommission hatte vorgeschlagen, die Gesetze so zu ändern, dass langjährige Arbeiter auch nach der Kündigung weiter auf ihrer Farm leben dürften. Eine Delegation der Gewerkschaft, der auch Jauch angehörte, stellte das Vorhaben im Parlament vor. Doch das Ansinnen wurde abgelehnt, von allen Parteien, wohlgemerkt 1997, lange nach dem Ende der Apartheid-Besatzung. „Wir haben uns die Leute angesehen und uns gefragt, warum“, erzählt Jauch heute. Er grinst bitter, ehe er das Rätsel auflöst: „Sie waren alle Farmer, alle diese Parlamentarier sind Teilzeit-Farmer – sie besitzen Farmen und sie denken wie Farmer, nicht wie Farmarbeiter.“ Die Gewerkschafter waren isoliert. „Unsere Abgeordneten“, betont Jauch, „steckten mit der weißen Bauernvereinigung unter einer Decke“. Es sei eine bewusste politische Entscheidung gewesen, den Arbeitern kein Wohnrecht einzuräumen, sagt der Arbeitsrechtler. „Und das hat den Weg dafür bereitet, das einige heute auf der Straße landen.“ Die Resignation schwingt in Jauchs Worten nun fast genauso mit wie in Xoagubs. Er weiß, dass es möglich gewesen wäre, Politik für die Armen zu machen. Doch die Parlamentarier, in der großen Mehrheit Abgeordnete der von der Befreiungsorganisation zur Regierungspartei gewandelten SWAPO, wollten es nicht. Sie entschieden sich gegen die Arbeiter, „aus persönlichen Interessen“, wie Jauch sagt. Und so haben Namibias Landarbeiter nicht einmal dann ein Recht zu bleiben, wenn sie keine andere Unterkunft finden können. „Die Macht liegt beim Farmbesitzer“, stellt Jauch klar.

Uhuru Dempers beschreibt das Resultat dieser Politik und verweist dazu auf einen Zeitungsartikel. „Ich war geschockt, zu lesen, dass jedes Jahr 6.000 namibische Kinder unter fünf Jahren an Unterernährung sterben“, sagt er. Den Report, der diesen Zahlen zugrunde liegt, hatte das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) im Jahr 2011 veröffentlicht, das Wortwort schrieb der damalige Premierminister Namibias, Nahas Angula. Fast jedes dritte Kind in Namibia, auch das erfährt der Leser dieses Berichts, ist unterernährt. 23 Prozent der Vorschulkinder leiden demnach unter Vitamin-A-Mangel und haben dadurch ein 20 mal höheres Risiko, an gewöhnlichen Kinderkrankheiten zu sterben. „Wie kann unsere Regierung es zulassen, dass 6.000 unschuldige Kinder verhungern?“ klagt Dempers an. „Warum haben wir nicht den politischen Willen, drastische Maßnahmen zu ergreifen, um den strukturellen Ursachen von Armut in diesem Land zu begegnen?“

Die Antwort findet sich wohl am ehesten in dem Phänomen, das Bertolt Brecht schon 1934 beschrieb: „Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an. Und der arme sagte bleich, wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“ Etwas weniger plakativ umreißt Uhuru Dempers die zugrunde liegenden Fehler bei der Landreform. „Unsere Intervention war bisher sehr elitär“, sagt er und beschreibt, dass die Regierung Menschen Farmen zugeteilt habe, die keine Regierungsunterstützung bräuchten, weil sie ausreichend viel verdienten, um einen Kredit von der Bank zu bekommen. „Staatssekretäre und Direktoren in der Regierung haben von unserer Landreform profitiert“, sagt Dempers. Die Landlosen und die Ärmsten der Armen, kommen dagegen nicht einmal in Frage für die Zuteilung eines Stück Lands. Grund dafür ist ein Punktesystem, nach dem Farmland verteilt wird. Bevorzugt werden dabei Antragsteller mit guter formeller Bildung, idealerweise einem Abschluss in Agrarwissenschaften, die zwischen 100 und 150 Stück Vieh besitzen.

Immanuel Xoagub besitzt zwei Rinder. Auf seinen Antrag auf Zuteilung einer Farm, eingereicht im Oktober 2013, hat er nicht einmal eine Antwort bekommen. Mit der Hilfe der Journalisten fährt Xoagub noch ein letztes Mal nach Gobabis, diesmal ins Ministerium für Land und Umsiedlung. Zwei Männer sitzen dort in einem vollkommen kargen Zimmer an einem braunem Tisch. Es gibt in dem Raum keine Schränke, keine Bilder. Die roten Augen des wortführenden Beamten zeugen eher von einer langen Partynacht als von professioneller Kompetenz. Er redet in eindringlichem Tonfall, lässt sich aber kaum mehr als Allgemeinplätze entlocken. Natürlich räume man niemanden einfach so, jeder Fall müsse untersucht werden, alle Parteien angehört werden. Seinem Kollegen fällt schließlich noch ergänzend ein, dass es schließlich nicht Sache ihres Ministeriums sei, sich „um Arbeitsangelegenheiten auf Umsiedlungsfarmen zu kümmern“. Wenn ein Arbeiter also von der Farm getrieben werden soll, weil er entlassen wurde, sei das „keine Sache des Ministeriums für Land“ schlussfolgert der Beamte der Behörde, die die Räumungsbescheide verschickt.

Für Xoagub gibt es in dieser Sache nichts zu bestellen, die Beamten lassen sich nicht einmal darauf ein, konkret über sein Problem zu sprechen. Die Gesetze, die die Farmer im Parlament erlassen haben, sprechen gegen ihn. Zurück auf Verlang sitzt er mit seiner Frau vor der Blechhütte, wo der kleinste Sohn unbeschwert im Sand spielt, und zieht Bilanz. Er sei sich klar darüber, dass sich nicht alle seine Probleme auf einmal beheben ließen. „Aber wenn ich in der Lage wäre, für einige eine Lösung zu finden und für die anderen später, dann wäre das meine Definition von Glück.“ Doch die Realität vor der Bilderbuchkulisse der namibischen Halbwüste sieht wesentlich trostloser aus. „Alles stagniert“, sagt Xoagub, „alles was ich versuche, erweist sich als aussichtslos“.

„Diejenigen, die 50.000 Hektar Land besitzen, sind jetzt zu Genossen geworden, mit Parteibuch der Regierungspartei“, konstatiert Uhuru Dempers. „Wird unsere Regierung also willens sein, diese GroĂźgrundbesitzer anzugreifen?“ fragt er rhetorisch. „Werden sie sagen, ‘Genosse, du hast zu viel, wir haben eine Mehrheit der Menschen hier, die gar kein Land haben. Können wir reden und können wir teilen?’“ Immanuel Xoagubs Schicksal beweist – beispielhaft fĂĽr Namibias verarmte Farmarbeiter – das Gegenteil. Ohne Hilfe von auĂźen bekommen sie nicht einmal die Leistungen, die ihnen aufgrund der aktuellen Gesetzeslage zustehen. Doch selbst mit UnterstĂĽtzung bliebe ihre Lage prekär, zu machtlos sind die Arbeiter in ihrer Isolation auf den einzelnen Farmen, zu stark ist der Einfluss der Landbesitzer in der Politik.

Erschienen im Mai 2016 in der BroschĂĽre “Die Vergessenen – FarmarbeiterInnen im SĂĽdlichen Afrika”, herausgegeben von der Kirchlichen Arbeitsstelle SĂĽdliches Afrika (KASA).