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Gewehre gegen Speere

20. August 2012 – 11:08

Südafrikas Polizei erschießt 34 streikende Bergleute/ Regierung reagiert mit verordneter Trauer

„Afrikanische Leben so billig wie immer“ – die vor allem bei Schwarzen populäre Tageszeitung „Sowetan“ versuchte am Freitag mit einem provokanten Aufmacher den Schock des Vortages zu verarbeiten. Anlass war der seit Ende der Apartheid 1994 blutigste Streik Südafrikas, bei dem allein am Donnerstag an der Marikana Platin-Mine, rund 80 Kilometer westlich der Hauptstadt Pretoria 34 Bergleute im Kugelhagel der Polizei starben. Wäre Südafrika ein normales Land, kommentierte das Blatt weiter „hätte eine Katastrophe des Ausmaßes von Marikana zu drastischen Maßnahmen der Regierung geführt“. In Südafrika brach Präsident Jacob Zuma immerhin seine Reise zum Regionalgipfel der Südafrikanischen Staatengemeinschaft SADC ab und kündigte rund um medienwirksame Krankenbettbesuche bei einigen der 78 verwundeten Kumpel eine Untersuchungskommission an. Derweil darf die landesweite Polizeichefin über den Regierungskanal die Meldung verbreiten, ihre Einsatzkräfte hätten alles versucht „um solche eine Situation zu verhindern“.
Seit mehr als einer Woche befinden sich die Bergleute an der wichtigsten Mine des weltweit drittgrößten Platin-Produzenten Lonmin bereits im wilden Streik. Sie fordern eine Anhebung ihrer Gehälter von derzeit umgerechnet 400 bis 600 auf 1250 Euro, doch der Arbeitskonflikt ist kein reiner Lohnstreik, sondern Ausdruck viel tiefer sitzender Wut. Die Kumpel werfen der alteingesessenen Bergbaugewerkschaft NUM vor, von der Geschäftsführung des Unternehmens korrumpiert zu sein. Und sie machen Lonmin dafür verantwortlich, dass sich ihre Lebensbedingungen in den vergangenen Jahren kaum verbessert haben. Noch immer bestehen die staubigen Siedlungen rund um die Minen aus einfachen winzigen Häusern oder Wellblechhütten, es fehlt an Perspektiven für die Jugend und damit auch am Vertrauen in die „bessere Zukunft für alle“, die der regierende ANC in den Wahlkämpfen der vergangenen Jahre immer wieder versprochen hatte.
Nach wochenlangen Auseinandersetzungen rund um die Mine, bei denen bereits vor Donnerstag zehn Menschen, darunter auch zwei Polizisten und zwei private Sicherheitskräfte, ihr Leben ließen, explodierte die soziale Bombe an jenem schicksalhaften Nachmittag. Schwerbewaffnete Polizeieinheiten hatten zunächst versucht, die mit Speeren und Macheten bewaffneten Bergleute zu entwaffnen und sie schließlich mit Gummigeschossen und Tränengas beschossen. Als die wütenden Arbeiter dann auf die Polizeikräfte zuliefen – einige Quellen machen dafür sogar das Tränengas verantwortlich – und nach leicht widersprüchlichen Presse- und Polizeiangaben wohl auch mindestens ein Kumpel eine Pistole oder Flinte zog, eröffneten dutzende Polizisten aus halbautomatischen Gewehren und scharfer Munition das Feuer. Reporter berichteten anschließend von durchlöcherten Körpern und regelrecht zerfetzten Köpfen.
Während die kleine, sozialistische Oppositionspartei AZAPO die Vorfälle mit den Apartheid-Massakern von Sharpville 1960 und Soweto 1976 verglich, attestierte NUM-Generalsekretär Frans Baleni der Polizei, sie habe alles in ihrer Macht stehende getan. „Nur verteidigt“ hätten sich ihre Polizisten, behauptete auch die oberste südafrikanische Polizei-Chefin Riah Phiyega – obwohl nur ein Polizist überhaupt in ein Krankenhaus eingeliefert und zwischenzeitlich wieder entlassen worden war. Jetzt sei nicht die Zeit für Schuldzuweisungen, sondern die Zeit der Trauer über einen „traurigen und dunklen Moment“, wies die erst kürzlich ins Amt eingeführte Phiyega dennoch über den staatlichen Nachrichtenkanal an und ließ auch in der Wortwahl die Tiefe ihrer Trauer erkennen: Die Polizei sei „betrübt über die Ereignisse vom Donnerstag und den Verlust von Leben“.
Staatspräsident Zuma, der sich am Donnerstag noch „schockiert und bestürzt über diese sinnlose Gewalt“ zeigte, wies zwar die Gründung einer Ermittlungskommission an, strahlte ansonsten allerdings die Dringlichkeit aus, als besuche er gerade den Ort eines Busunglücks. Eine Lösung des Konfliktes an der Marikana-Mine bot Zuma mit keinem Wort. Die hat sein notorischer, korruptionsumwitterter Gegenspieler und aus der Partei ausgeschlossene Ex-Präsident der ANC-Jugendliga, Julius Malema, bereits vorgegeben. Der bestens vernetzte Jungunternehmer forderte am Samstag unter dem Applaus der Kumpel erneut die Verstaatlichung der Minen. Der ANC und NUM sollten schnellstens eigene Konzepte präsentieren, wenn sie den Populisten nicht das Feld überlassen wollen.

Erschienen am 20. August 2012 in junge Welt.