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Rückschritt in dunkle Zeiten

4. September 2012 – 11:44

Südafrika: Nach dem Massaker von Marikana offenbaren sich die Spaltungen zwischen Elite und Arbeiterklasse immer stärker

Es klingt wie eine Groteske, doch für hunderte Bergarbeiter ist sie bitterer Ernst: Weil die Polizei vor zwei Wochen im Rahmen des Streiks an der Platinmine Marikana 34 Demonstranten erschossen hatte, erhob die südafrikanische Staatsanwaltschaft am Donnerstag Mordanklage gegen 270 Überlebende des Massakers, von denen etliche sogar direkt nach der Entlassung aus dem Krankenhaus verhaftet worden waren. Der Vorwurf: Die Kumpel hätten mit ihrem militanten Streik – die Polizei fühlte sich nach eigenen Angaben von traditionellen Waffen wie Speeren und Macheten sowie einer Handfeuerwaffe bedroht – die massenhafte Erschießung ihrer Kollegen ausgelöst und seinen somit verantwortlich für deren Tod. Juristische Basis dafür ist ausgerechnet ein Gesetz aus der Apartheid-Zeit, das der heute regierende African National Congress (ANC) einst massiv kritisierte. Nach reichlich politischem Druck zog die Staatsanwaltschaft die Mordanklagen am Sonntag zwar vorläufig zurück und kündigte zugleich an, die Gefangenen vorerst freizulassen, endgültig aufheben wollte sie die Vorwürfe allerdings nicht. Und auch die politischen Folgen des blutigsten Polizeieinsatzes seit den ersten freien Wahlen des Landes 1994 entfalten sich immer weiter.

Der einflussreiche ANC-Schatzmeister Mathews Phosa, der als möglicher Herausforderer von Staatspräsident Jacob Zuma an der Partei-Spitze gehandelt wird, nannte die Anklageerhebung „rücksichtslos, unangebracht und beinahe absurd“ – eine Einschätzung die auch Verfassungsexperten teilen, die aber für eine weitere Flügelspaltung im ANC sorgte. „Wir brauchen kein weiteres Marikana, wir brauchen kühle Köpfe“, mahnte Phosa dramatisch. Der nicht erst seit dem Massaker zunehmend unterkühlt wirkende Zuma, der einige Opfer vor zwei Wochen noch medienwirksam am Krankenbett besucht hatte, gab dagegen nur zu Protokoll, sich nicht in die Arbeit der Justiz einmischen zu wollen. Wer die Staatsanwaltschaft dann letztendlich doch zum Einlenken brachte, ist nun zwar unklar, deutlich wird allerdings eine weitere Entfremdung der Regierung von den mittellosen Massen des Landes, wo mehr als die Hälfte der 50 Millionen Einwohner unter der Armutsgrenze leben.

Die ANC-Regierung, die in Südafrika zwar seit 1994 den größten Sozialstaat des Kontinents schuf, ein flächendeckendes Kindergeld und Renten für verarmte Alte einführte, sowie über 3 Millionen Sozialbau-Häuser an Familien übergab, die zuvor in Wellblechhütten lebten, steht den Herausforderungen im Kampf gegen die Armut immer kälter und brutaler gegenüber. Ihre Spitzen haben sich entfremdet von den Massen, die einst die Apartheid zum Einsturz brachten. Sie haben sich kaufen lassen von den multinationalen Konzernen, allen voran im Bergbau, wo in gewohnter Regelmäßigkeit die Familiennamen von ANC-Größen in Aufsichtsräten, lukrativen Entwicklungsprojekten für schwarze Unternehmer und Investorenkonsortien auftauchen, während die Bergbaugemeinden noch immer in schäbigen Siedlungen, oft ohne fließendes Wasser und sichere Stromversorgung am Rande der Minen und der Existenz hausen. Die zum in London gelisteten, drittgrößten Platinproduzenten der Welt, Lonmin, gehörende Marikana-Mine ist da nur ein Beispiel.

Gegen die daraus resultierende, landesweite Wut hat der Staat in den letzten Jahren eine immer brutalere und zunehmend entfesselte Polizei gestellt, die in ihren Methoden nicht erst seit Marikana immer mehr den berüchtigten Truppen der Apartheid-Regierung ähnelt. Erst Anfang August haben Johannesburger Polizisten ohne rechtlich vorgeschriebene Vorwarnung eine informelle Armensiedlung nahe des Börsenviertels Sandton dem Erdboden gleich gemacht. Und nicht zuletzt Präsident Zuma selbst hatte vor drei Jahren für Aufsehen gesorgt, als er – frisch im Amt – die Polizei aufforderte bei der Jagd auf Kriminelle „zu schießen um zu töten“.

Das Resultat sind immer gewalttätigere Demonstrationen, die in einen ungleichen Kampf münden: Speere gegen halbautomatische Gewehre, Ohnmacht gegen Macht. Marikana war dabei kein aus dem Ruder gelaufener Arbeitskonflikt, das zeigt allein die Tatsache, dass das Gros der Opfer nicht selbst Bergarbeiter, sondern Arbeitslose waren. Was in Südafrikas Platin-Gürtel explodierte, war die soziale Zeitbombe des Landes – und die dürfte noch viele weitere Zünder für „ein weiteres Marikana“ haben, wie nun immerhin Teile des ANCs erkannt haben.

Erschienen am 4. September 2012 in junge Welt.