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Zum Baum des Lebens

13. August 2016 – 13:59

Glimmende Savanne und eiskalte Wasserfälle: Der Süden Tansanias bietet Abenteuer und Natur abseits der großen Safarirouten

Tansania, das sind endlose Graslandschaften, das ist das Stampfen der Gnu-Herden, das ist Wildnis. »Je mehr Zeit verging, je weiter wir fuhren, in immer neuen Schleifen, nach dem richtigen Weg suchend, um so unruhiger wurde ich. Seit dem Morgen waren wir keinem Menschen mehr begegnet.« So beschrieb der polnische Afrikakorrespondent Ryszard Kapuscinski, der in den vier Jahrzehnten seines Schaffens zu einer Art kritischem Botschafter des Kontinents wurde, in seinem Klassiker »Afrikanisches Fieber« das Tansania des Jahres 1962. Doch das war die Serengeti. Statt einer Savanne gilt es heute nach der Ankunft in Daressalam erst einmal einen Dschungel zu durchdringen, der aus Blech ist.

Wie ein zerzaustes Wollknäuel, das einem verspielten Junglöwen in die Hände gefallen ist, sind die Autokolonnen auf den asphaltierten Lebenslinien der Metropole am Indischen Ozean allmorgendlich ineinander verflochten. In starrer Anspannung lauern die Fahrer auf die nächste Lücke, doch selbst die kleinen Moped-Taxis bleiben stecken. Nichts bewegt sich, so scheint es, außer dem beschwingten Verkehrspolizisten in der Mitte der Kreuzung. Ganz in weiß gekleidet, führt er, einem Singvogel in der Balzzeit gleich, seinen Ausdruckstanz auf. Nur in den sengend heißen Mittagsstunden, wenn wie in der tansanischen Wildnis das Leben erstarrt, wird er kurz Schatten und Ruhe suchen, ehe sich das Schauspiel bis in die Dunkelheit hinein wiederholt.

Seit November vergangenen Jahres unterstehen der Beamte und seine Kollegen dem neugewählten Präsidenten John Magufuli von der seit ihrer Gründung 1977 regierenden sozialdemokratischen Partei der Revolution (Chama Cha Mapinduzi, CCM). Der neue Mann schickt sich an, die grassierende Korruption im Land zu bekämpfen und die Staatskasse auf Vordermann zu bringen. Selbst Minister fliegen seitdem in der Economy Class und Verkehrspolizisten kontrollieren inzwischen eher klapprige LKW als die lukrativeren Leihwagen der Touristen. In der Bevölkerung kommt das gut an.

Ob Magufuli sich mit seinen Maßnahmen – erst kürzlich verbot er den Import von Zucker, um der heimischen Industrie auf die Beine zu helfen – gegen den Würgegriff der Weltbank durchsetzen kann, muss sich aber erst noch zeigen. Die Bretton-Woods-Institution ist nach eigenen Angaben mit knapp vier Milliarden US-Dollar im Land »engagiert« – und regiert als Gläubiger von gut einem Viertel der gesamten Staatsschulden von derzeit 15,4 Milliarden US-Dollar (13,8 Milliarden Euro) entsprechend mit. Die Weltbank rühmt sich unter anderem auf ihrer Internetseite damit, hauptsächlich Kredite für das Transportwesen des Landes vergeben zu haben. Vor allem sollen damit natürlich Rohstoffe aus Tansania und seinen Nachbarstaaten im Inneren des Kontinents ausgeführt werden, die dazu gebauten Straßen führen aber auch Reisende ins Land hinein.

Auf der Fahrt gen Westen wird allerdings bald deutlich, wie die geringe Bevölkerungsdichte Tansanias zustande kommt, wo sich durchschnittlich 52 Einwohner einen Quadratkilometer Land teilen. 945.000 Quadratkilometer umfasst das Staatsgebiet, fast dreimal so viel wie Deutschland. Zwischen den Dörfern liegen riesige Plantagen, auf denen Sisal-Agaven für die Textilindustrie angebaut werden, weiter im Inland auch Zuckerrohr und Reis. Vor allem aber dominiert die Savanne, die das Land mittels unzähliger Tierfilme berühmt gemacht hat. Wie wild Tansania auch weit abseits der großen Serengeti ist, wird gut 250 Kilometer westlich von Daressalam deutlich, wenn die Hauptverbindungsstraße zwischen der Hafenmetropole und dem benachbarten Binnenland Sambia plötzlich in den Mikumi-Nationalpark eintaucht. Rund 32 Prozent der Landfläche Tansanias stehen unter Naturschutz, und wie ernst der genommen wird, ist in Heller und Pfennig auf Schildern abzulesen. 1.200 US-Dollar Strafe muss berappen, wer ein Zebra überfährt, 15.000 werden nach einer Kollision mit einem Elefanten fällig – gesetzt den Fall, dass das Tier nicht zu letaler Selbstjustiz greift. Von der Antilope bis zum Löwen sind die abschreckenden Straftarife für Wildunfälle auf einer großen Tafel aufgelistet. Da es auf der Transitstrecke gleichzeitig verboten ist, der Tierbeobachtung zu frönen, entwickelt sich hinterm Steuer ein seltsame Melange aus angestrengter Aufmerksamkeit und verstohlenen Blicken auf grasende Büffelherden und behäbig trabende Giraffen.

Zerfurchte Wege

Tansania ist für Autofahrer kein einfaches Land, nicht nur aufgrund von derlei Skurrilitäten. Haupttücke sind die Straßen. Schon die geteerte Nationalstraße A7 weist Spurrillen auf, die das Bewegungsfreiheitsgefühl eines Lokführers vermitteln. Würden nicht ständig Busse im Tiefflug vorbeibrausen, könnten zur Regenzeit Kinder in den tiefen Furchen baden. Auf den nicht asphaltierten Nebenstraßen erhöht sich der Abenteuerfaktor noch signifikant. Vor der Windschutzscheibe erschließt sich eine weite Kraterlandschaft, die zwar mutmaßlich nie eine Rüttelplatte gesehen hat, sich aber doch genau so anfühlt. Da auch auf Wegweiser und Hinweisschilder weitestgehend verzichtet wurde, empfiehlt es sich für Reisen ins Landesinnere viel Zeit einzuplanen. Ein Schnitt von 30 Kilometern pro Stunde gilt mancherorts als rasant. Doch wie schon die Affen in der Werbung eines japanischen Automobilherstellers wussten: Nichts ist unmöglich. Tansanias Straßen können grausam sein, doch sie sind bezwingbar.

Die nächste Steigerungsstufe bieten die Pisten in den Nationalparks, die mitunter ohne jede vorherige Warnung an einer tiefen Schlucht enden. »Am schlimmsten war, dass auch das ganze verwirrende Wegenetz zu zittern begann, das uns seit ein paar Stunden in seiner trügerischen, beängstigenden Gewalt gefangenhielt«, berichtete Kapuscinski. Die Hitze, die der Reporterlegende in den Sechzigern zu schaffen machte, lässt sich heute mit einer Klimaanlage bekämpfen. Doch ansonsten haben seine Worte Bestand. Und selbst in einem mit 3.200 Quadratkilometern noch verhältnismäßig kleinen Reservat wie dem Mikumi-Nationalpark wissen die Ranger im Hauptquartier im Zweifelsfall nicht, welche Brücken abseits der asphaltierten Hauptstraße nach dem jüngsten Hochwasser noch existieren und welche Verbindungen gerade gekappt sind. Der Reisende steht hier vor der Wahl: Er kann auf Nummer sicher gehen und sich von einem Ranger im Safarigeländewagen umherkutschieren lassen – oder er sucht die Unwägbarkeiten und Abenteuer, die ohnehin den Reiz einer Fahrt durch Tansania ausmachen. Belohnt wird er mit dem Blick auf eine weite Graslandschaft, in der Dutzende Giraffen gemächlich zur nächsten Baumgruppe schreiten, oder er wird einer mächtigen Elefantenherde ansichtig, deren Muttertiere all ihre erzieherische Autorität aufwenden, um die Kleinen zum geordneten Weitermarsch zu bringen. Der Süden Tansanias taucht in den Safarirouten der großen Anbieter in der Regel nicht auf. Es ist einsam hier, ruhig und nach all den Strapazen der Straße kommt schließlich das Gefühl auf, privilegiert zu sein, ganz allein, in der beinahe unheimlichen Ruhe, mit all den Tieren der Savanne.

Am Wasser predigen

Wirklich niedrig ist der Geräuschpegel an Hans’ Arbeitsplatz nicht. Der junge Mann, der sich seinen Gästen – wie in Tansania üblich – nur mit dem Vornamen vorstellt, arbeitet als Parkführer im Udzungwa-Mountains-Nationalpark. Gut zwei Autostunden dauert die Fahrt in das Reservat 65 Kilometer südwestlich des Mikumi-Nationalparks, die Hälfte davon auf einer auf Karten als Regionalpiste verzeichneten Aneinanderreihung von Schlaglöchern, deren Fahrspur nur durch die an ihr gelegenen langgezogenen Straßendörfer und dichte Vegetation definiert ist. Schon auf dem Weg in den Park zeigen sich dessen Bewohner: Gruppen von Pavianen machen sich auf die Suche nach dem, was die Menschen angebaut haben.

Da Hans noch in der Ausbildung ist, begleitet er die Parkbesucher vor allem auf der Tour hinauf zum Sanje-Wasserfall, der einfachsten und bei Touristen beliebtesten Wanderung. Sobald die mit wummernder Konservenmusik aus dröhnenden Boxen untermalte Predigt des örtlichen Kirchenmannes in Sanje-Village vom dichten Blätterwerk aufgesogen ist, konkurriert eine andere, wenngleich wesentlich natürlichere Lärmquelle mit der ohnehin sanften und schüchternen Stimme des schmächtigen Führers mit den beinahe kindlichen Gesichtszügen.

170 Meter stürzt der Hauptwasserfall irgendwo im Wald hinter Hans in die Tiefe, doch dafür hat der noch keine Gedanken übrig. Akribisch achtet er darauf, keine botanische Information über die Heil-, Nutz- und Giftpflanzen entlang des gut präparierten Pfades auszulassen. Er pflückt grüne fleischige Blätter, deren dicke rote Milch einst als eine Art Lippenstift Verwendung fand. Dann erzählt er von Wurzeln, aus denen sich Bier brauen lässt, allerhand Aufgüssen aus Borke und Holz, mit denen sich so ziemlich jedes gewöhnliche Gebrechen lindern ließe, und warnt schließlich vor Psychotria tanganyikensis, einem dünnen Bäumchen, dessen Blätter »siebenmal so stark wie Marihuana« sein sollen. Die Augenbrauen der Zuhörer und die Mundwinkel des Erzählenden bewegen sich nach oben.

Als schließlich der Aussichtspunkt auf einem steilen Vorsprung erreicht ist, vor dem die Wassermassen donnernd ins Tal fallen, hat Hans Redepause. Naturgewalten wirken für sich. Das gilt auch für das kalte Gebirgswasser in dem kleinen natürlichen Swimmingpool etwas oberhalb. Hans käme es im Traum nicht in den Sinn, in dieses Eisfass zu steigen. Die Touristen aus Europa dagegen lechzen nach Abkühlung und bekommen sie auch, ehe die Halbtagestour mit dem Abstieg in die fruchtbare Ebene endet, aus der die Udzungwa-Berge 2.576 Meter in die Höhe ragen. Man könnte den fast 2.000 Quadratkilometer großen Nationalpark nun noch tagelang mit einem ganzen Tross von Trägern von Berghütte zu Berghütte durchwandern, doch das klingt bei gefühlten 45 Grad im Schatten mehr nach TV-Dschungelcamp als nach lohnendem Abenteuer.

Ländlicher Alltag

Bleibt also das flache Land. An der Kante zwischen den Bergen und der weiten Ebene Südtansanias schlängelt sich die löchrige Piste noch einmal 50 Kilometer weiter bis nach Ifakara. Die Kleinstadt ist das Zentrum der ländlich geprägten Region. Hier bringen die Bauern aus dem Umland auf Fahrrädern ihre Waren her: Kisten voll mit Tomaten, Gurken und Zucchinis oder schwere Säcke voller Holzkohle. Den Rückweg treten sie dann mit einem Paket Reis an. Und wer es sich leisten kann, ersteht in den engen Gassen des lokalen Lebensmittelmarktes noch einen Fisch aus dem Kilombero-Fluss. Touristen kommen hier nur selten her, und wenn doch, dann werden sie nicht umringt – sie kaufen ja doch kaum Knoblauchzöpfe oder lebende Hühner.

Das Umland von Ifakara lässt sich, die Bauern machen es vor, bestens per Fahrrad erkunden, das hinter dem örtlichen Krankenhaus für umgerechnet weniger als einen Euro am Tag geliehen werden kann. Die Räder, einfache und in der Regel recht klein geratene Modelle, lassen zwar kein Tour-de-France-Training zu, sind aber in der Lage, auch schlammige Feldpfade zu bewältigen. Das gemächliche Tempo erlaubt es, die kleinen Kinder, die lauthals »Mzungu, Mzungu« (Weißer, Weißer) rufen, mit ein paar Brocken Swahili zum verschämten Kichern zu bringen. Das eigene Sprachwissen lässt sich zudem hervorragend an einem der Verkaufsstände erweitern, die in nahezu jeder Straße in den weitläufigen, von viel Grün durchzogenen Vierteln von Ifakara zu finden sind. Auf dem Lehr- und Speiseplan stehen dort Bananen, Kokosnüsse oder kleine Teigtaschen mit Kartoffelcurryfüllung. Gegen Mittag sind vielerorts auch Reisgerichte zu bekommen, wahlweise mit Bohnen oder getrockneten Minifischen. Am späten Nachmittag liegt der Duft von gegrillten Maiskolben in der Luft. Die Preise sind verschwindend niedrig, kein Vergleich zu den verhältnismäßig teuren Restaurants in den häufiger von Touristen frequentierten Gegenden.

Mangos werden an den Ständen ebenfalls verkauft, man darf sie aber auch selbst unter einem Baum aufsammeln, der während der Mittagszeit zugleich als Schutz vor der Brutalität der Sonne dient. Anstatt in der Hitze außerhalb des Schattens zu verbrennen und förmlich zu zerfließen bietet sich hier eine Lesepause an. Kapuscinski zum Beispiel. »Eigentlich können wir jedes Mal, wenn wir in der Entfernung einen Mangobaum sehen, darauf zusteuern, im Wissen, dass wir dort Menschen antreffen, ein wenig Wasser und vielleicht sogar etwas zu essen bekommen werden. Diese Menschen haben den Baum erhalten, weil sie ohne ihn nicht leben können«, heißt es im letzten Kapitel von »Afrikanisches Fieber«. »Unter dieser Sonne braucht der Mensch Schatten, und der Baum ist der Verwalter und Spender des Schattens.« Die Zeilen dieses aufmerksamen Reisenden sind bis heute ein guter Ratgeber für Nachahmer.

Erschienen am 13. August 2016 in der jungen Welt.