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Wem gehört die Stadt?

3. Dezember 2014 – 12:11

Südafrika: Die Zerstörung des Kapstadter Stadtteils District Six steht symbolisch für die Verbrechen des Apartheidregimes. Heute kämpfen die Bewohner von damals um die Rückkehr in ihr Viertel – und um ihr Recht auf ein Leben im Zentrum

Verloren geht der Blick von Blanche Kensley ins Leere. Auf der Brache vor ihrer Veranda erstreckte sich einst eines der belebtesten Viertel Kapstadts: District Six. Muslime, Juden und Christen lebten hier Tür an Tür, Weiße, Inder, Coloureds und Schwarze. So jedenfalls klassifizierte das rassistische Apartheidregime die Menschen – in absteigender Wertigkeit. Die Kensleys hatten die Behörden der dritte Gruppe zugeschlagen, den »Farbigen« oder »Gemischtrassigen«. Derlei Abstempeln und Schubladendenken waren essentielle Bestandteile des ultrarechten Systems. Ein solches Arbeiterviertel, wie es in Kapstadt unweit des Hafens am langsam steiler werdenden Nordhang des Tafelbergs gewachsen war, stand nicht nur der politischen Ideologie der Regierung in Pretoria im Wege, sondern auch dem auf der Ausbeutung der Unterdrückten basierten Wirtschaftsmodell des Apartheidstaats. Deshalb rollten im District Six ab 1968 die Bulldozer an. Das Haus, in dem Blanche Kensley ihre acht Kinder zur Welt gebracht hatte, zerstörten sie 1980 als eines der letzten. Für die nächsten 33 Jahre musste sie in Mitchell’s Plain leben, verbannt in ein staubiges Planviertel am Stadtrand. Insgesamt 66.000 Menschen wurden so nur aufgrund ihrer Hautfarbe vertrieben – allein aus District Six.

»Ich war froh«, sagt die 83 Jahre alte Frau heute kurz und knapp über den 24. August 2013, den Tag, als sie, umringt von Politikern und Journalisten, den Schlüssel zu der neuen Wohnung in der Rutger Street bekam. In einem leichten weißen Kleid mit rotem Tulpendruck sitzt sie dort nun vor den strahlend weißen Wänden der zweigeschossigen Doppelhaushälfte auf ihrem hölzernen Klappstuhl. Das Gesicht durchzogen von tiefen Falten, wirkt sie trotzdem entspannt, irgendwie angekommen und weiß gar nicht so recht, was sie noch sagen soll. Zumal die Erinnerung langsam schwächer wird, Altersdemenz setzt Blanche Kensley zu. »Es war eine lange Reise«, pflichtet Tochter Rhonda, die mit in die Drei-Zimmer-Wohnung gezogen ist, ihrer Mutter schließlich bei. »Es ist ein Wunder, dass sie nach Hause gekommen ist«, sagt die strenggläubige Christin, »nach all den Schmerzen und Tränen der gewaltsamen Vertreibung.« Zuletzt hatten sie damals nicht einmal mehr über die Grasflächen laufen dürfen, die Weißen vorbehalten waren. Die Staatsmacht wurde immer brutaler. »Sie haben uns Tränengasgranaten auf die Veranda geschossen«, erinnert sich die 54jährige.

Blanche Kensley redet darüber nicht. Beinahe teilnahmslos lässt sie ihre Töchter erzählen, Rhonda und die zwei Jahre jüngere Cynthia, die gerade zu Besuch ist. Cynthia war 19, als ein Bagger die erste Wand ihres Elternhauses einriss – die Familie befand sich da noch im Haus. »Es geht nicht um meine Generation, es geht um die alten Leute, darum, dass ihre Würde wieder hergestellt wird, bevor sie die Augen schließen«, sagt die Angestellte der Stadtverwaltung. Blanche Kensley ist inzwischen sichtlich in Gedanken versunken. Die Tür zum Haus steht offen, es ist sonnig und angenehm warm, ein leichter Wind kommt vom Atlantik herauf. »Sie wünschte, mein Vater könnte das hier noch erleben«, sagt Rhonda. Charles Kensley hatte bis zum Schluss gegen die Vertreibung angekämpft. »Er war einer der Männer, die bis zum Ende geblieben sind, als alles schon aussah, als wäre es bombardiert worden«, erzählt Rhonda. Ihr Vater sei auch einer der ersten gewesen, die sich für den Wiederaufbau von District Six eingesetzt hatten, als unter Nelson Mandela das neue Südafrika entstand. Als die Familie im November 2013 erstmals wieder gemeinsam den Geburtstag der Mutter in ihrem Heimatstadtteil feierte, war Vater Charles nicht mehr dabei. Er starb 2005. Die Apartheid war da schon seit elf Jahren Geschichte, auf dem Papier zumindest.

Klasse ersetzt »Rasse«

Die Narben der »Rassentrennung« sind noch immer unübersehbar. Bis 1985 hatten die Machthaber des Apartheidregimes lediglich 3.500 Weiße, größtenteils Staatsangestellte, in neuen Wohnblocks auf dem Areal des niedergewalzten Stadtteils angesiedelt. Dazu kam ein Universitätscampus. Der Großteil von District Six ist aber noch heute Grasland, aus der Nähe sind die Reste von Fundamenten und Straßenpflaster zu erkennen. Anwah Nagia blickt aus seinem Büro hoch oben in einem der Wolkenkratzer im Zentrum von Kapstadt täglich auf das große grüne Loch am Rand der Innenstadt. Nagia ist Vorsitzender des »District Six Community Beneficiary Trust«, der gemeinnützigen Organisation, die sich für die Rückkehr der einst vertriebenen Familien einsetzt. Doch obwohl die Pläne zum Wiederaufbau des Viertels längst in den Schubladen liegen, verläuft der Prozess schleppend. Gerade einmal 139 Wohneinheiten sind bisher entstanden. »Es ist sehr traurig«, sagt Nagia, der die Schuldigen in der neoliberalen Stadtregierung sieht. Kapstadt ist die einzige Großstadt Südafrikas, die von der Democratic Alliance (DA) regiert wird, der von Weißen dominierten, landesweit stärksten Oppositionspartei. »Die Stadt und insbesondere die Innenstadt sind zum Spielplatz der Reichen geworden«, kritisiert Nagia. »Die Leute kommen mit Petrodollar, Euro, Pfund Sterling und allen möglichen Währungen, um Kapstadt billig aufzukaufen und sich hier Sommerdomizile zu schaffen. Diese Investitionen erschweren den Entschädigungsprozess in District Six immens.«

Zwar hatte der damalige Staatspräsident Thabo Mbeki, wie alle Regierungschefs seit 1994 ein Politiker der einstigen Befreiungsbewegung African National Congress (ANC), bereits im Jahr 2000 klargestellt, dass die 42 Hektar Land, die in District Six brachliegen, für die Rückkehr der einstigen Bewohner vorgesehen sind. Doch mit denen haben die neuen Nachbarn ein Problem: Sie sind ihnen zu arm. Für die Stadtverwaltung ist das vor allem ein Investitionsrisiko. »Hier gehen kleine Apartments für zwei oder drei Millionen Rand (140.000 bis 210.000 Euro) weg, und wir kommen und bauen eine Arbeitersiedlung mitten in der Innenstadt, die – ihrer Meinung nach – der Wertentwicklung der Immobilien schadet«, begründet Nagia die mangelnde Unterstützung seitens der Lokalregierung. »Es ist billiger, diese Fläche brachliegen zu lassen, weil die 22 Milliarden Rand (1,6 Milliarden Euro), die in der Stadt in Grundstücke und Gebäude investiert worden sind, die Verluste kompensieren, die durch das Zurückhalten dieses Areals entstehen.« Die Apartheid lebt so in Kapstadt weiter, sie hat nur ihr Gesicht geändert. »Das ist kein Rassenkampf mehr, es ist ein Klassenkampf. Und letztendlich mussten alle Südafrikaner einen Klassenkampf und keinen Anti-Apartheid-Kampf führen – die Apartheid war nur die Manifestation der Unterdrückung in diesem Land«, erklärt Nagia. »Die Leute können heute kaufen, verkaufen, machen und tun, sie können heiraten, sich frei bewegen und hinziehen, wo sie wollen, aber letztendlich halten Klassenkampf und Gentrifizierung die Armen aus der Stadt heraus.«

Die Kommunalregierung selbst streut freilich eine andere Version. Die extrem langen Wartezeiten haben zu Differenzen unter den einst vertriebenen Familien geführt – und die lassen sich bestens instrumentalisieren. Missgunst und Gerüchte über Unregelmäßigkeiten im Vergabeprozess entstehen. »Hier ziehen lauter Leute ein, die hier nicht hergehören«, klagt auch Cynthia Kensley. Sie selbst habe interveniert, als ihre Mutter nicht auf der Rückkehrerliste stand, obwohl ihr Vater rechtzeitig den Antrag gestellt hatte. Die DA nutzt diese Konflikte, um die wartenden Familien gegen den Community Beneficiary Trust auszuspielen, in dessen Hand die Wohnungsbauprojekte liegen. »Sie haben die Leute erfolgreich gegen uns aufgebracht«, konstatiert Nagia. Alle möglichen Dinge erfinde die Stadtverwaltung, um es so aussehen zu lassen, als sei das Projekt des Wiederaufbaus von District Six zum Scheitern verurteilt. Wer die Lokalzeitungen verfolgt, kann die Umsetzung der Strategie beobachten. Und wenn dann doch einmal, wie im August 2013, ein paar Wohnungen übergeben werden, sind die Politiker schnell lächelnd zur Stelle, allen voran die Führungskräfte der DA, die auch die Provinz Western Cape regiert, deren Hauptstadt Kapstadt ist. So ließ es sich Parteichefin Helen Zille, eine ehemalige Journalistin, nicht nehmen, die mit ihren Emotionen kämpfende Blanche Kensley bei der Schlüsselübergabe für ein Foto zu herzen.

Identitätswiederaufbau

»Wenn die Politiker diese Erfolge auch eigennützig für sich proklamieren, dann sollen sie es tun – solange wir die Häuser fertigstellen können und die Armen zurück in die Stadt bekommen«, sagt Nagia. Er hat wieder Hoffnung. Spätestens seitdem sich die Regierung in Pretoria, insbesondere in Person des Ministers für ländliche Entwicklung und Landreform, Gugile Nkwinti, aktiv eingebracht hat, glaubt Nagia daran, in den nächsten fünf bis sechs Jahren 5.000 weitere Wohnungen übergeben zu können. Aus Sicht der Zentralregierung ist das aber auch eine Budgetfrage. 3,5 Millionen Südafrikaner haben seit dem Ende der Apartheid Entschädigungsanträge gestellt. Es geht um Farmen und Wohngrundstücke, um Rückkehr und Ausgleichszahlungen – vor allem aber um die Heilung einer tief verwundeten Gesellschaft. Auch deshalb setzt die Regierung in Pretoria nicht auf Enteignungen, sondern auf ein Verfahren, bei dem die derzeitigen Besitzer ihre Ländereien freiwillig verkaufen und der Staat ein Vorkaufsrecht hat, das er an die während der Apartheid Vertriebenen weitergeben kann. Können die Antragsteller das Geld nicht aufbringen, springt der Staat selbst als Käufer ein, hat dafür aber pro Jahr lediglich ein Budget in Höhe von drei Milliarden Rand (210 Millionen Euro). Der »District Six Community Beneficiary Trust« setzt deshalb auf ein Finanzierungsmodell, bei dem die Familien, die in ihre neuen Wohnungen einziehen, umgerechnet rund 17.000 Euro bezahlen, die in den Bau weiterer Einheiten fließen sollen. Das entspricht in etwa einem Drittel der tatsächlichen Baukosten. Im Gegenzug erhalten sie nicht nur eine neue Unterkunft sondern werden auch jährlich an den Pachtgebühren für die Gewerbeflächen beteiligt, die im neu aufgebauten Stadtteil entstehen sollen.

Die besondere Symbolrolle, die District Six bei seiner Zerstörung hatte, soll der Stadtteil nun auch beim Wiederaufbau einnehmen. »Wir müssen eine Gemeinschaft schaffen, die den Ideen von District Six entspricht«, erklärt Valmont Layne, Direktor des Stadtteilmuseums, »wir bauen nicht District Six wieder auf«. In der Praxis bedeutet das, dass die zurückkehrenden Familien nicht ihre Grundstücke wiederbekommen, sondern lediglich die Möglichkeit, in dem Viertel zu wohnen. Die Entschädigung richtet sich generell nicht danach, wer die Häuser besessen hat, sondern wer darin wohnte. Das liegt auch daran, dass Schwarze schon seit dem Landgesetz von 1913 weder Land noch Immobilien im Stadtgebiet besitzen durften. Eine Rückgabe der Grundstücke an die Besitzer zur Zeit der Zerstörung des Viertels würde dieses Unrecht nur weiter manifestieren.

»Wir können keine Stadt umgestalten auf der Grundlage, die Apartheid-Herrscher zu bestrafen«, sagt auch Nagia. »Die Stadt hat sich weiterentwickelt, es sind 40, 50 Jahre vergangen, und selbst wenn wir gegenüber den Leuten in der Pflicht sind, die illegal und gewaltsam vertrieben wurden, müssen wir uns auch nach der geänderten Demographie in der Stadt richten.« Dass diese Sicht manchmal schwer zu vermitteln ist, weiß Nagia. »Manche Leute kommen und sagen: >Aber das war mein Haus, dort wurde ich geboren<«, berichtet er. Doch der Weg, den seine Organisation in District Six geht, ist alternativlos. Von den 95 Hektar, die der Stadtteil umfasst, sind 53 bereits anderweitig bebaut – hauptsächlich von der Universität und durch die großen Einfallstraßen ins Stadtzentrum. Nagia geht es nicht um die Romantisierung des alten District Six, er kämpft darum, den heutigen Arbeitergenerationen innenstadtnahes Wohnen zu ermöglichen.

Und dennoch geht es bei District Six auch um Identitäten, um Menschen, die nach Hause wollen. Noor Ebrahim ist so einer. Der kleine, knorrige Mann mit der sanften Stimme führt Besuchergruppen durch das Stadtteilmuseum. »Mein Name steht auf der Warteliste, wir wollen zurückkommen«, sagt er und weist auf die große Karte, die im Hauptraum des Museums auf den Fußboden geklebt ist. »Das hier war mein Zuhause«, sagt er, und zeigt auf die Ecke zwischen Caledon Street und Horsbury Lane. »Als sie das Haus abgerissen haben, stand ich dort gegenüber und schaute ihnen zu«, erzählt er und redet immer schneller. Die graue Anzughose und das blaue Karohemd hängen locker von seinem ausgemergelten Körper, die schwarzen Schuhe hat er penibel blankpoliert. Eigentlich müsste der 70jährige, der schon mit zehn Jahren angefangen hat, Zeitungen und Obst zu verkaufen, gar nicht mehr arbeiten. Doch die Geschichte seines Viertels zu vermitteln, ist für ihn mehr Berufung als Beruf.

Für die vertriebenen und zurückgekehrten Bewohner von District Six ist der Kampf um ihren Stadtteil auch einer um ihre Stellung in der südafrikanischen Gesellschaft. Wenn Cynthia Kensley neben ihrer Mutter über die Bedeutung des Viertels redet, wird das Spannungsverhältnis zwischen dem Aufbruch in die neue vielbeschworene antirassistische Regenbogennation und der leidvollen Geschichte Südafrikas deutlich. »Ja, wir waren benachteiligt, aber der Schmerz der Vergangenheit ist ja nichts, was uns besser macht«, sagt sie, und stellt keine Minute später fest, dass »die Leute auf Arbeit noch immer rassistische Bemerkungen machen, die einen augenblicklich an diese Tage zurückdenken lassen, als wir vertrieben wurden«. Blanche Kensley schweigt weiter. »Es ist schwer, zu vergeben und zu vergessen«, sagt Cynthia. Der Schatten des Hauses wird in der immer tiefer stehenden Sonne länger und länger. Auf der Brache vor dem Haus haben Obdachlose, die dort in selbstgegrabenen Erdlöchern leben, ihre Feuer für die Nacht entzündet. Es gibt noch viel zu tun in Südafrika, aber in District Six haben sie zumindest einen Anfang gemacht.

Erschienen am 3. Dezember 2014 in der Afrika-Beilage der jungen Welt.