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In den Straßen Sowetos

10. April 2010 – 09:44

In Johannesburgs Mega-Township Soweto müssen die Ärmsten immer noch um das Mindeste kämpfen

Spätestens seit dem Schüleraufstand von 1976 ist Südafrikas größtes Township Soweto auch international zum Sinnbild der Zwangssiedlungen für Schwarze geworden. Soweto steht stereotyp für den häufig romantisierten Mix aus Armut, Jazzkultur und dem Widerstand gegen die Apartheid. 16 Jahre nach den ersten freien Wahlen des Landes hat sich die gigantische Siedlung, die 1,3 Millionen Menschen beherbergt, stark verändert. Doch der „Struggle“, wie die Menschen hier den Kampf für Gerechtigkeit nennen, ist noch lange nicht vorbei.

Wer von Johannesburgs Innenstadt nach Soweto fährt, ist zunächst überrascht. Die in den meisten Townships Südafrikas nach wie vor allgegenwärtigen Blechhütten fallen hier anfangs kaum ins Auge. Die Straßen sind akkurat geteert, viele sogar durch saubere Bürgersteige gesäumt, hinter kleinen Betonzäunen stehen einfache, aber stabile Häuschen. Etliche Familien haben ihr Heim ausgebaut und vergrößert. Teile von Soweto, wie beispielsweise Diepkloof Extension, sind zu reinen Villenvierteln geworden. Einkaufszentren, Bars und Restaurants sprießen wie Pilze aus dem Boden, sogar das Stadion für das Fußball-WM-Finale steht in Soweto.

Fast scheint es, als sei dieser so geschichtsträchtige heutige Stadtteil Johannesburgs angekommen in der freien Zukunft, die sich die Schüler 1976 gewünscht hatten. Damals demonstrierten tausende Kinder und Jugendliche vordergründig gegen Afrikaans, die Sprache der burischen Kolonialisten, als Unterrichtssprache. Ihr zunächst friedlicher Aufstand, der von der Polizei blutig niedergeschossen wurde und hunderte tote Kinder zurückließ, war der Beginn der Renaissance des Widerstands gegen das rassistische Regime. Die Black Consciousness Bewegung hatte den Schwarzen neues Selbstbewusstsein gegeben und war auch nach der Ermordung ihres Anführers Steve Biko durch die Polizei 1977 nicht mehr aufzuhalten. 1994 waren die South Western Townships – Soweto ist keinesfalls ein klangvoller afrikanischer Name sondern eine schlichte Abkürzung aus den Zeiten der Apartheid-Städteplanung – frei wie der Rest des Landes. Der Fortschritt in Soweto ist nicht zuletzt Ausdruck dieser Freiheit. Schwarze haben heute Zugang zu höherer Bildung und besseren Jobs, die Chancen sind gestiegen.

Doch die glänzende Fassade ist nur das eine Gesicht des neuen Soweto. „Auf der anderen Seite sind die Hüttensiedlungen angewachsen, die extreme Armut ist heute deutlich sichtbarer“, sagt Claire Ceruti, Forscherin am Zentrum für Soziologische Recherchen an der Universität Johannesburg (CSR). Ihr Direktor am CSR, Peter Alexander, pflichtet ihr bei: „Wenn man als Tourist das erste Mal nach Soweto kommt, bemerkt man die Armut nicht. Man sieht viele neue Bauprojekte und es scheint, als wäre es ein sehr dynamischer Teil der südafrikanischen Gesellschaft. Doch wenn man genauer hinschaut, wenn man in die Häuser der Leute oder in die Hüttensiedlungen abseits der Touristenrouten geht, findet man enorme Armut.“ Die Arbeitslosigkeit in Soweto liegt aktuell bei offiziell knapp 50 Prozent – die kleinen Straßenhändler, die sich mit dem Verkauf von etwas Obst und Süßigkeiten über Wasser halten, sind da noch nicht einmal eingerechnet. Lediglich 23,7 Prozent der Bevölkerung haben einen mehr oder minder festen Arbeitsplatz. Waren es einst moralische Selbstverständlichkeiten wie freie Bildung, Gleichberechtigung und Menschenwürde, so kämpfen die meisten Menschen in Soweto heute daher um die notwendigsten Güter des alltäglichen Lebens: Strom, Wasser und Lebensmittel.

„Wasser ist Leben – Hört auf, es zu verkaufen“, steht in englischer Sprache auf einer kargen Mauer in Phiri, einem Teil von Soweto. Jabulani Molobela ist einer von denen, die hinter den Parolen stehen und die den neuen „Struggle“ aufgenommen haben. Der heute Vierzigjährige wurde 1976 eingeschult. „Soweto hat damals gebrannt“, erinnert er sich an sein erstes Schuljahr. Später schloss er sich dem Congress of South African Students, der Schüler-Organisation der unterdrückten Massen, an. Nachdem die 1985 verboten worden war, wurde auch Molobela 1987 ohne Verfahren ins Gefängnis gesteckt. Die Schule brach er schließlich in der zwölften Klasse ab, ein Schritt den er heute zutiefst bereut. Doch er hatte keine Wahl: „Wir waren Soldaten des ‚Struggles‘“. Einmal, erzählt Molobela mit einem Funkeln in den Augen, hätte er sich mit seinen Comrades wütend vor einem der gepanzerten Truppentransporter aufgebaut, lediglich eine Avocado in der Hand. Der Plan ging auf: In der Angst, dass da gerade eine Handgranate zwischen ihren Füßen gelandet sei, sprangen die Polizisten heraus. Doch nicht immer lief der Kampf so glücklich, ein Stück Schrot aus einem Polizei-Gewehr steckt noch immer in Molobelas Augenbraue – als Erinnerung an eine bewegte Zeit.

Als der ANC, für den er so lange gekämpft hatte, 1996 sein marktliberales GEAR-Entwicklungsprogramm (Growth, Employment and Redistribution) einführte, brach Molobela mit der Regierungspartei. Der Groll sitzt noch immer tief. „Thabo Mbeki hat niemals den Schmerz gespürt, er wurde niemals von den weißen Buren zusammengeschlagen“, schimpft er auf den Ex-Präsidenten, der hinter GEAR stand und die Zeit des Kampfes im Exil verbracht hatte.

Heute ist Molobela Aktivist beim Soweto Electricity Crisis Committee (SECC), einer Nichtregierungsorganisation, die Mitglied im Antiprivatisierungsforum (APF) Südafrikas ist und sich für freien Zugang zu Wasser und Elektrizität für die arme Bevölkerung einsetzt. Im Rahmen des Programms Egoli 2000 hat Johannesburg im Jahr 2000 die Wasser- und Stromversorgung teilprivatisiert. Die Folgen für die Armen waren absehbar. Gerade einmal sechs Kiloliter Wasser stand einem Haushalt in Soweto bis vor kurzem als kostenlose Grundversorgung zu. Bei durchschnittlich acht Personen pro Haushalt, sind das 25 Liter pro Kopf und Tag – etwas mehr als zwei Toilettenspülungen. Nachdem sich eine Frau aus Phiri das Genick brach, als sie einen 20-Liter-Kanister Wasser auf ihrem Kopf von einem Gemeinschaftswasserhahn im nächsten Straßenzug nach Hause tragen wollte, weil dort der Hahn abgedreht worden war, klagten die Bewohner des Viertels gegen den Wasserkonzern Johannesburg Water. Sie bekamen recht und haben nun Anspruch auf zehn Kiloliter – der durchschnittliche Verbrauch eines Haushalts in Soweto liegt nach Greenpeace-Zahlen von 2004 bei 14 Kilolitern.

Doch selbst die zehn Kiloliter gibt es nur wenn ein nachweislich armer Haushalt einen Prepaid-Wasserzähler und einen Prepaid-Stromzähler auf dem Grundstück installieren lässt. Die Aufstockung kommt somit als Trojaner daher, denn ist das Guthaben aufgebraucht, sitzen die Familien buchstäblich im Dunkeln und auf dem Trockenen. Bei der Elektrizität reicht die frei zugängliche Menge sogar noch weniger lang. 50 KW gibt es pro Monat und Haushalt – damit könnte man zwei bis drei Glühbirnen die ganze Zeit durchbrennen lassen. Für einen Kühlschrank reicht der Strom allerdings schon nicht mehr. Und der Strom wird immer teurer. Anfang des Jahres hat die Regierung dem halbstaatlichen Strommonopolisten Eskom einen Preisanstieg von jeweils 25 Prozent für die nächsten drei Jahre bewilligt.

Molobela und seine Genossen haben nach Jahren der Verhandlungen, Protestmärsche und nicht erfüllten Mindestforderungen deswegen inzwischen einen pragmatischeren Weg der Problemlösung gewählt. Sie überbrücken die abgeklemmten Wasser- und Stromleitungen einfach: „Eskom wollte die Situation der Menschen hier nicht verstehen. Sie haben sie einfach abgeklemmt, also mussten wir sie wieder anschließen.“ Am Stromkasten vor seinem Haus zeigt Molobela, wie das geht. Er weiß genau, welches Kabel wo angezapft werden kann, welche Teile er beschaffen muss, wenn die Mitarbeiter des Stromkonzerns mal wieder einen Haushalt lahm gelegt haben. Unzählige entsprechend ausgebildete Aktivisten gibt es inzwischen, die Sache hat sich verselbstständigt. Sie liefern sich ein regelrechtes Katz- und Maus-Spiel mit den Strom- und Wasser-Konzernen. In seiner Straße gäbe es nur noch ein Haus, das über einen intakten Prepaid-Wasserzähler verfügt, erzählt Molobela – und das gehört dem Unternehmer, der die Geräte im Auftrag von Johannesburg Water installieren sollte. „Die sagen: Nothing for mahala – Nichts für umsonst“, empört sich Molobela, „doch wir sagen: Das Wasser kommt von Gott, wer hat also das Recht, es zu verkaufen?“ Er verstehe schon, dass jemand für die Aufbereitung und den Transport bezahlen müsse, aber das sei für die Ärmsten Aufgabe der Regierung.

Auch Jeanett Matlhaela hat sich gegen das Prepaid-Wasser gewehrt. Daraufhin wurde ihr Haus von der Versorgung abgeklemmt, sie sollte nur noch Wasser aus einem Hahn an der Straße bekommen, in den zudem ein so genannter Trickler eingebaut werden sollte, der das Wasser nur so langsam fließen lässt, dass im Monat auch wirklich nur sechs Kiloliter entnommen werden können. Den Trickler hat sie gleich wieder entfernen lassen, aber das Wasser zum Waschen und Kochen muss die gebrechliche alte Frau immer noch von draußen in Eimern hereinschleppen. Der Strom wird immer mal wieder abgeklemmt, momentan läuft er allerdings. „Wir sollen ja den Ball rollen sehen“, sagt Matlhaela mit leicht ironischem Unterton unter Hinweis auf die nahende Fußball-WM. Als wenn sie keine anderen Probleme hätte. Zusammen mit ihrer Tochter und deren fünf Kindern lebt sie in dem kleinen Drei-Zimmer-Haus in Phiri. Keiner hat Arbeit. Im Hof hinter dem Haus bauen sie ein klein wenig Gemüse an, zusammen mit der Rente und dem Kindergeld reicht das gerade so zum überleben. Vor dem Haus liegt die Erde brach, zu viel Grün könnte die Kontrolleure des Wasserkonzerns anziehen.

Phiris Bürgermeister Vusimuzi Mchunu vom ANC ist sich des Problems zwar bewusst, spielt es aber herunter. Mit dem Schicksal von Großmutter Matlhaela konfrontiert sagt er nur: „Es sollte eine Lösung geben, aber ich habe momentan keine“. Ein Stadtratsmitglied, der noch von der vorhergegangenen Sitzung im Raum geblieben ist, springt ihm sofort zur Seite. Die Leute würden sich hinter ihren Großmüttern verstecken, um Leistungen zu erschleichen, die wirklich von Armut Betroffenen seien nur „ein Tropfen im Wasser“. Mchunu, in dessen Verwaltungsgebäude die Bürger von Phiri ihre Prepaid-Guthaben kaufen können, fügt hinzu, dass Menschen mit Fernseher und Kühlschrank für ihn nicht arm seien. Der stämmige Mann verweist lieber auf das Essensprogramm an Schulen, das sein ANC gestartet habe und die Zuschüsse für Familien die sich die Schulgebühren nicht leisten könnten. Fazit: Alles Einzelfälle, wir tun genug.

Molobela hat für diese Ausflüchte nur ein müdes Lächeln übrig. Und er weiß, woher der Wind weht. Die Aktivisten der SECC sind eng vernetzt mit Antiprivatisierungsforum. Ihr Kampf um die Grundversorgung geht nicht nur von der Hand in den Mund – er ist ein politischer. Mindestens einmal im Jahr halten die ebenfalls im APF organisierten Gruppen Keep Left und Socialist Group einen Marxismus-Tag in Soweto ab, der den ideologischen und theoretischen Überbau geben soll und dafür sorgt, dass die Aktivisten in ihrem aufreibenden Kampf gegen die Windmühlen des Alltags den globalen Rahmen nicht aus den Augen verlieren. Molobela beschreibt es praktisch: „Die meisten Leute hier bezahlen nicht für Strom und Wasser, also kümmern sie sich auch nicht um die Preissteigerungen. Aber die Unternehmen arbeiten natürlich weiter an Strategien. Deswegen brauchen wir den APF-Überbau, damit unser Kampf in die richtige Richtung geht.“

Wie wichtig dieser Rahmen ist, zeigt sich gute 45 Autominuten südöstlich von Soweto im Township Orange Farm noch deutlich schärfer. Die slumartige Siedlung entstand 1989 als Arbeitertownship für Industriebetriebe und Minen im Süden Johannesburgs. Hier gibt es noch nicht einmal eine Kanalisation, obwohl sie seit zehn Jahren versprochen wird. Im vergangenen Jahr wurde das Kanalisationsprojekt der Stadt erneut gestoppt, 57 der 64 Arbeiter wurden entlassen.

In einer Blechbarracke sitzen acht Männer zusammen, einstige Arbeiter der Manganfabrik SAMANCOR, einer Tochter der britischen BHP Billiton. Sie wirken erschöpft und hoffnungslos. Seit Jahren kämpfen sie um Entschädigung für die Manganvergiftungen, die sie und ihre Angehörigen in der Fabrik erlitten haben. Als der Konzern von der Erkrankung erfuhr, hatte er die Männer entlassen. Auf politische Unterstützung können sie kaum hoffen. Im Gegenteil: Es muss für sie wie Hohn geklungen haben, als in den vergangenen Tagen öffentlich wurde, dass BHP Billiton einen Spezialvertrag mit dem Stromversorger Eskom hat, nach dem der Strompreis circa 100 Mal niedriger als der Tarif für Privatverbraucher und damit sogar unter dem Bereitstellungspreis liegt. Jedes Mal, wenn die Arbeiter nun das Licht anschalten, zahlen subventionieren sie damit die Firma, die sie krank gemacht hat.

„Es scheint, als seinen wir der vergessene Teil dieser Stadt“, sagt Sam Makgoka, Vorsitzender im Orange Farm Water Crisis Committee und aktiver Mitarbeiter im Itsoseng Projekt. Itsoseng heißt „Wach auf“ und ist ein Beleg dafür, dass die Menschen in Orange Farm den Kampf um Gerechtigkeit niemals aufgeben werden. Gladys Mokolo startete das Projekt mit einigen Mitstreiterinnen 1997 aus der Arbeitslosigkeit heraus. Anfangs versuchten sie im verwilderten Buschland auf dem Gelände einer staatlichen Schule mit Gemüseanbau ein Auskommen zu verdienen, doch nachdem sie das Gelände urbar gemacht hatten, mussten sie es wieder räumen. Zudem ist der Anbau auf der geringen Fläche wenig effizient – auch weil die gespendete Saat genetisch manipuliert war, neue Zöglinge lassen sich aus der Vorjahresernte nicht ziehen. „Die Probleme türmen sich auf“, sagt Kaizer Sebidi, ebenfalls im Projekt aktiv. Die Menschen in Orange Farm seien nicht über die sterile Gen-Saat informiert worden, das Itsoseng Projekt leiste deswegen nun Aufklärungsarbeit, doch inzwischen sei es schwer, überhaupt noch an reproduzierbare Saat zu kommen. Inzwischen gibt es nur noch einen kleinen Garten, dafür aber ein Müll-Recycling-Projekt und einen Kindergarten mit Vorschule für die Menschen im Township. 85 Kinder werden hier betreut und unterrichtet, vier Erzieherinnen und eine Köchin haben so Arbeit gefunden.

Doch dort, wo ein Golden Highway, der deswegen so heißt, weil in der Straße einst tatsächlich der goldstaubhaltige Sand aus den nahen Minen verbaut wurde, die ärmsten Siedlungen Johannesburgs mit der reichsten Wirtschaftsmetropole des Kontinents verbindet, ist immer noch Platz für einen weiteren Zynismus. Die Geschichte des Kindergartens, der eigentlich ein Vorzeigeprojekt ist, bietet da reichlich Stoff: Weil das Gesetz für die Vergabe von Kindergarten-Lizenzen fließendes Wasser und Toiletten mit Spülung verlangt, beides aber trotz ewiger Versprechungen der Stadtoberen noch nicht angeschlossen ist, droht der Einrichtung inzwischen die Zwangsschließung. „Das sind die Frustrationen, mit denen wir leben, mein Junge“, sagt Mokolo mit einem Schulterzucken. Wer die kämpferische Frau trifft, weiß, dass sie deswegen nicht aufgibt. Der Wasser- und Strom-Überbrücker Molobela trifft den Nagel auf den Kopf: „Ich glaube, wir haben noch nicht erreicht, wofür wir gekämpft haben. Der ‚Struggle‘ geht weiter.“

Erschienen am 10.4.2010 in junge Welt.