Das Ende der Zweiklassenmedizin
13. Oktober 2012 – 19:06SĂĽdafrika plant ein einheitliches Gesundheitswesen, das allen Menschen gleich dienen und alte Barrieren durchbrechen soll. Doch die Herausforderungen fĂĽr den heruntergekommenen staatlichen Sektor sind enorm.
„Die Idee ist, den privaten und den öffentlichen Sektor zusammenzubringen, damit ein Arzt jeden gleich behandelt“, umreißt Wilmari Honey die geplante Gesundheitsreform in Südafrika. Sie sagt das, wie jemand von einer besonderen Vision schwärmt. Der Gleichheitsgedanke klingt aus ihrem Mund wie ein schöner Traum, ein hehres, aber doch fernes Ziel. Denn das Gesundheitssystem Südafrikas ist auch 18 Jahre nach dem Ende der Apartheid noch eine tief gespaltene Zweiklassengesellschaft. Die Trennlinie, einst vom rassistischen Regime in Pretoria entlang von Hautfarben gezogen, verläuft nun zwischen arm und reich. Doch zumindest bei Honey hat sie ein Stück weit ihre Wirkung verloren. Im Humansdorp Provincial Hospital, das die 52-Jährige leitet, landen Privatpatienten, die sich teure Krankenversicherungen leisten können, auf den gleichen Operationstischen wie diejenigen, die auf die steuerfinanzierte, kostenlose, staatliche Versorgung angewiesen sind. Alle Patienten kommen in der gleichen Notaufnahme an. Sie schlafen zwar noch in getrennten Räumen unter der Aufsicht getrennter Ärzteteams, doch sie werden gleich versorgt. Geht es nach Südafrikas Gesundheitsminister Aaron Motsoaledi werden die Unterschiede bald gänzlich wegfallen, im ganzen Land. Eine einheitliche Nationale Krankenversicherung (NHI) soll künftig das Ziel eines „langen und gesunden Lebens für alle Südafrikaner“ erfüllen. So hat es die Regierung in ihren zwölf Kernprioritäten formuliert.
„Wir haben einen Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gibt“, ließ Motsoaledi während seiner Budget-Rede Ende April im Kapstädter Parlament keinen Zweifel an seinen Plänen. Zehn der 62 Verwaltungsdistrikte wurden bereits für die Pilotphase des neuen Versicherungsmodells ausgewählt, noch in diesem Jahr will der Minister jedes einzelne für jeweils drei Tage persönlich besuchen und sein Projekt ins Rollen bringen. Die genauen Details zur Finanzierung der landesweiten Umsetzung sind zwar derzeit noch ungeklärt, sicher ist aber bereits, dass der Beitrag zur NHI für alle Südafrikaner verpflichtend werden soll – auch für diejenigen die sich weiterhin privat versichern wollen. Doch die Reform geht über den einheitlichen Versicherungsmodus hinaus. Motsoaledi will im Zusammenspiel mit den privaten Arztpraxen ein Modell aufbauen, das einen starken Fokus auf Vorsorge legt und die Krankenhäuser entlastet. Nicht-übertragbare Volkskrankheiten wie Diabetes oder Herzleiden sollen zukünftig eher erkannt und bereits in den Polikliniken der Stadtteile von Krankenschwestern versorgt werden, bevor überhaupt ein Arzt den Notfall reparieren muss. Eine wichtige Rolle soll dabei auch eine Änderung der Überweisungsstrukturen spielen. Südafrika will – und muss – wegkommen von dem Zustand, dass jeder Patient ohne weiteres in ein spezialisiertes Krankenhaus gehen kann und so zur Überlastung der Fachärzte beiträgt. Doch dazu müssen die kleinen Kliniken attraktiver werden.
Zunächst geht es daher vor allem darum, den Standard heruntergekommener staatlicher Einrichtungen anzuheben. Die Herausforderung, das gibt der für seine Erfolge im Kampf gegen HIV und Aids hoch angesehene Motsoaledi offen zu, ist „außergewöhnlich“. Immer wieder erschüttern Skandale um Korruption in Klinikverwaltungen und Gesundheitsbehörden das Land und schwächen die durch die immensen Aids- und Tuberkuloseepidemien ohnehin schwer belasteten Krankenhäuser. Lange Patientenschlangen, Bettenmangel und Ärzteknappheit bestimmen das Bild. In den kleinen Kliniken auf dem Lande ist nicht selten ein Mediziner für mehr als fünf Einrichtungen zuständig, vielerorts sind die Schwestern ganz auf sich allein gestellt. Von gut 34000 in Südafrika zugelassenen Ärzten arbeiten nicht einmal 10000 im staatlichen Sektor – und kümmern sich um 85 Prozent der rund 50 Millionen Südafrikaner. Knapp ein Drittel der vorgesehenen Stellen für medizinisches Personal in staatlichen Einrichtungen sind vakant. Es fehlt an fähigen Managern und Fachkräften gleichermaßen. Zudem ist Gesundheit in Südafrika käuflich – und sie hat ihren Preis. Von den 8,6 Prozent des Bruttosozialprodukts, die der südafrikanische Staat jährlich direkt oder indirekt in sein Gesundheitssystem pumpt, wird mehr als die Hälfte im Privatsektor ausgegeben – zum Nutzen von nur 15 Prozent der Gesamtbevölkerung. In anderen Worten: Allein der Staat gibt für wohlhabende Privatversicherte durch die steuerliche Absetzbarkeit pro Kopf mehr als sieben Mal so viel aus wie für seine Bedürftigen.
Dr. Basil Brown kennt die schockierenden Zahlen, die das Gesundheitsministerium, die Entwicklungsbank des südlichen Afrikas (DBSA) sowie der Rat für Wissenschafts- und Industriestudien (CSIR) in den vergangenen Jahren veröffentlicht haben. Brown kennt auch die Auswirkungen. Der 65-Jährige ist der einzige staatliche Kardiologe in der gesamten Provinz Eastern Cape. Sieben Millionen Menschen leben hier, das Gros in bitterer Armut. Zu erreichen ist er nur nach Dienstschluss, abends, in seinem kleinen Privathaus. Kaum 500 Meter vom großen Komplex des Provinz-Krankenhauses, der die größtenteils eingeschossig gehaltene Wohngegend im Zentrum der Millionenmetropole Port Elizabeth überragt, sitzt Brown auf seiner Couch. Der grau gewordene Mann redet ruhig, nur manchmal schlägt seine Stimme nach oben aus – das ist der Galgenhumor, der sich immer mal wieder in die Resignation mischt. „Wenn Sie heute Nacht einen Herzinfarkt haben, gehen Sie ins (staatliche) Livingston Krankenhaus, aber die werden sagen, dass die Station voll ist und man sie erst morgen sehen kann – sind Sie aber privat versichert, gehen Sie ins Greenacres Krankenhaus und werden sofort behandelt“, beschreibt er die ernüchternde Realität.
Die NHI will genau an dieser Stelle ansetzen, künftig sollen alle Krankenhäuser allen Menschen offen stehen, getragen durch die einheitliche staatliche Versicherung. Kritiker warnen, dass selbst die kombinierten Krankenhauskapazitäten nicht ausreichen. Die Reichen fürchten um ihren Versorgungsstandard und selbst Ärzte wie Brown zweifeln an der Fähigkeit des staatlichen Gesundheitsapparats seine eigenen Krankenhäuser entsprechend aufzuwerten und auszubauen. Dazu kommt die Ärzteknappheit. 1200 Mediziner schließen in Südafrika jährlich ihr Studium ab. 6000 Absolventen würden pro Jahrgang gebraucht, rechnet Brown vor, doch für die ist an den Universitätskliniken derzeit gar kein Platz. Das Problem wächst derweil. Nach einer Studie der Entwicklungsbank des südlichen Afrikas aus dem Jahre 2008 fehlen dem Land insgesamt rund 13000 Ärzte. Erschwerend hinzu kommen die immensen gesundheitlichen Probleme, die aus Armut, mangelnder Gesundheitsaufklärung, ungesunder Ernährung und dem Leben in nicht isolierten, undichten Wellblechhütten, oft ohne fließend Wasser oder Kanalisation, einhergehen. Südafrikas Gesundheitskrise hat nicht nur mit der ungleichen Versorgungsqualität in staatlichen und privaten Krankenhäusern zu tun, sondern mit allen Auswirkungen der immensen Arm-Reich-Schere im Land. Brown glaubt daher nicht, dass die NHI die Gesundheitskrise überhaupt lösen kann. „Es kann nicht klappen, weil es sich mit den Auswirkungen beschäftigt und nicht mit den Problemen, wie man verhindern kann, das Leute krank werden“, sieht der Arzt schwarz. „Die liegen in unserer Sozial- und Wirtschaftspolitik – und das ist genau das, wo der ANC versagt hat. Der ANC folgt einem neoliberalen Modell, angetrieben vom Internationalen Währungsfonds, wenn Sie mich daher nach einer Lösung fragen, wäre das sämtliche Verbindungen zur Weltbank und zum IWF abzubrechen.“ Dass es damit allein nicht getan wäre, belegt der Mediziner gleich anschließend. Er beklagt Korruption, Missmanagement und falsche Budgetverteilungen. Sein Krankenhausmanager habe dem Ärzte-Kollegium gerade heute auferlegt, sich künftig mit Stempeln zu identifizieren, weil die Unterschriften unter den medizinischen Berichten nicht immer zu identifizieren seien, erzählt Brown mit einem Lachen. „Das ist ja an sich eine gute Sache, aber sie haben sich nicht darum gekümmert, dass die Leute auf der Station noch immer keine Betten bekommen.“ Ganze Tage würden die Patienten mitunter liegend in der Schlange im Warteraum verbringen, ohne dass die Klinik-Leitung dagegen Schritte einleite. „Und das sind die Leute, die die NHI einführen sollen. Es ist das totale Chaos, komplett verrückt!“ Sein Fazit ist vernichtend: „Die NHI ist ein großartiger Plan, aber die Ausführung ist das Problem. Ich sehe das hier in Port Elizabeth in zehn Jahren nicht kommen.“
Dass es tatsächlich sogar länger dauern könnte, musste im August auch die Nationale Planungskommission in ihrem NHI-Bericht für Präsident Jacob Zuma feststellen. Auch wenn der Fonds für die einheitliche Krankenversicherung bereits in den nächsten Jahren aufgesetzt werden soll, rechnet das Gremium mit einer erfolgreichen landesweiten Einführung des neuen Gesundheitssystems erst in den nächsten 15 bis 25 Jahren. Motsoaledi will bis dahin die Qualität der staatlichen Einrichtungen verbessern und mehr Personal einstellen. Doch das muss zunächst ausgebildet werden. Neben Investitionen in die Infrastruktur will der Gesundheitsminister daher mit einem umgerechnet 120 Millionen Euro schweren Investitionsprogramm die Ausbildungskapazitäten für junge Ärzte auf jährlich 3600 verdreifachen, dazu eine weitere Medizinschule gründen, die vorhandenen Universitätskrankenhäuser und Schwesternschulen ausbauen und jährlich 1000 statt der bisherigen 80 angehenden Medizinstudenten zur Ausbildung nach Kuba schicken. Zeitgleich räumt er die Verwaltungen auf. Grundvoraussetzung für Krankenhausmanager soll künftig ein abgeschlossenes Medizinstudium sein, was nicht wenige Mediziner als entscheidenden Schritt gegen die bisher viel zu häufige Ernennung von politisch gut vernetzten, aber inkompetenten Führungskräften sehen.
Doch so ambitioniert Motsoaledis Pläne auch sind, er muss sie gegen harten Gegenwind durchboxen.  Konservative und liberale Kritiker halten die einheitliche Krankenversicherung für unbezahlbar und rechnen vor, dass der südafrikanische Staat seine Gesundheitsausgaben drastisch von bisher 3,5 auf 8 Prozent seines Bruttosozialproduktes steigern würde. Versicherungsriesen und private Krankenhauskonzerne blasen zur Attacke auf die NHI, in medienwirksamen Kampagnen wird bereits jetzt ein Drohszenario von ineffizienter Staatsverwaltung, explodierenden Kosten, resultierenden Steuererhöhungen und schließlich Arbeitsplatzverlusten an die Wand gemalt. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Was die NHI-Kritiker verschweigen, ist dass die südafrikanische Regierung die Gesundheitsversorgung der oberen 15 Prozent derzeit mehr kostet als sie für die Versorgung der armen Massen in den staatlichen Krankenhäusern ausgibt. Von den 8,6 Prozent des Bruttosozialprodukts, die in der Kaprepublik insgesamt für Gesundheitskosten ausgegeben werden, entfallen nämlich 58 Prozent auf die privaten Krankenversicherungen der privilegierten Minderheit, die sie sich überhaupt nur leisten kann. Weil diese Ausgaben aber steuerlich absetzbar sind, zahlt die Regierung indirekt kräftig mit, pro Kopf sogar wesentlich mehr als für die 85 Prozent der Bevölkerung ohne Versicherungsschutz. Die steuerfinanzierte Pflichtversicherung NHI soll damit aufräumen, weil alle Südafrikaner einkommensabhängig einzahlen müssten – darüber hinaus können nach dem NHI-Modell lediglich Zusatzversicherungen abgeschlossen werden. Gesundheitsminister Motsoaledi rechnet sogar vor, dass die Gesamtsumme aller privaten und öffentlichen Gesundheitsausgaben mit der NHI sinken würde.
Der Minister ist ein Mann der Tat, eine positive Erscheinung im lethargischen Kollektiv der derzeitigen ANC-Regierung. Als bei der zentralen Beerdigungsfeier für die von der Polizei erschossenen Bergleute von Marikana rund um das überfüllte Festzelt am Rande der Mine die Trauernden in der sengenden Sonne kollabierten, zog Motsoaledi die Gummihandschuh an und arbeitete Seite an Seite mit den Sanitätern. Es ist genau dieser aktive, soziale Einsatz, der den einst selbst praktizierenden Arzt, so gefährlich macht für die reichen Besitzstandswahrer, die sich im Kern einzig und allein dagegen wehren, ein solidarisches Gesundheitssystem für die arme Mehrheit der Südafrikaner mit zu bezahlen. Motsoaledi aber denkt nicht wie ein Ökonom und auch nur bedingt wie ein Politiker. In erster Linie ist er immer noch der prinzipientreue Arzt, der versorgen gleichberechtigt und unabhängig will. Die unehrliche Finanzierungsdebatte ist er so leid, dass er sie auf einer ANC-Veranstaltung im September einfach abwürgte: „Ich muss nicht gefragt werden, wie wir die NHI finanzieren. Das ist nicht mein Job, darum muss sich der Finanzminister kümmern.“
Die Botschaft ist so klar wie wahr: Aus humanitärer Sicht ist die Gesundheitsreform unausweichlich und Motsoaledi stellt das über alle anderen Fragen. Dass die NHI auch rentabel funktionieren kann, deutet sich derweil vor dem Bürofenster von Wilmari Honey in Humansdorp an. Die Klinkerfassade des Komplexes ist frisch verputzt, die Rasenflächen sind englisch penibel getrimmt und das Wellblechdach des langgezogenen Komplexes strahlt so blau wie der klare Himmel darüber. Seit 2004 operiert das Krankenhaus als Public-Private-Partnership zwischen staatlicher Gesundheitsbehörde, für die Honey arbeitet, und einem privaten Krankenhauskonzern. Weil dank staatlicher und privater Investitionen mehr vor Ort behandelt werden kann, seien die Überweisungen ins 80 Kilometer entfernte Port Elizabeth wesentlich zurückgegangen. Das nimmt Druck von den großen Krankenhäusern und spart Geld. „Es ist kosteneffektiver, die Regierung zahlt jetzt weniger“, sagt Honey. Es ist ein Modellprojekt, eine der Säulen der Gesundheitsreform und gleichzeitig ein Hoffnungsschimmer. Es geht dabei nicht um Privatisierungen – das private Krankenhaus war von jeher da – sondern um die Bündelung der raren Kräfte im südafrikanischen Gesundheitswesen. „Die Fähigkeiten, die wir in staatlichen und privaten Institutionen haben, zusammenzubringen, ist das Gesamtziel der NHI“, erklärt Honey die Vision, die ihrer Meinung nach dringend in die Realität umgesetzt werden muss. „Ich sehe keine andere Lösung für die Krise des Gesundheitswesens in unserem Land.“
Erschienen am 13. Oktober 2012 in junge Welt.