Die vergessenen Freiheitskämpfer vom Tafelberg
16. Dezember 2011 – 05:41Vor 50 Jahren gründete eine Gruppe um Nelson Mandela den bewaffneten Arm des ANC. Viele der ehemaligen Freiheitskämpfer sehen ihr Ziel auch nach dem Ende der Apartheid nicht erreicht. Ein Ortsbesuch in Kapstadt.
Faizel Moosa schaut hinab über die schroffen Klippen, die davor ausgebreitete Innenstadt, den Hafen und den tief blauen Ozean. Mit Sonnenbrille, kurzen Hosen und Bob-Marley-T-Shirt sieht er aus wie einer der zahlreichen Urlauber, die täglich den Tafelberg hinaufkraxeln. Doch für Moosa ist es eine Zeitreise in die Vergangenheit. Zum ersten Mal seit Jahren steigt der ruhige Familienvater die steilen Pfade zum mächtigen Plateau hinauf, das über Kapstadt thront. „Wir haben immer gedacht: Unsere Anführer sitzen da, also müssen wir härter kämpfen, um sie da runter zu bekommen“, erzählt er und zeigt mit dem ausgestreckten Arm auf die ehemalige Gefängnisinsel Robben Island, auf der Nelson Mandela 18 seiner 27 Jahre in Haft verbrachte. In der Ferne ist der Lärm der Stadt zu hören, das „Rattenrennen im Betondschungel“, wie Moosa es nennt. Der Berg liefert den friedlichen Kontrast. „Heute kann ich der Stille zuhören und sie schätzen“, sagt er beiläufig, aber damals habe er mit der Schönheit der Natur nichts anfangen können. „Dafür hatten wir keinen Gedanken frei.“
Moosa war Freiheitskämpfer, Mitglied von Umkhonto we Sizwe (MK), dem bewaffneten Arm des African National Congress (ANC). In den 80er Jahren war er Kommandierender einer achtköpfigen MK-Zelle und am Tafelberg war ihr konspirativer Treffpunkt. „Grandfather’s right foot“ – „Großvaters rechten Fuß“ haben sie den Berg genannt, der heute zu den Neuen 7 Weltwundern zählt und schon damals Touristen aus aller Herren Länder anzog. Weiße Touristen zumindest, denn in Südafrika herrschte Rassentrennung. Für den Wohlstand einer kleinen weißen Minderheit wurden Farbige und Schwarze brutal unterdrückt. Wer im Widerstand aktiv war, musste mit Folter rechnen. Nicht wenige kamen in den Händen der Polizei um – versehentlich vom Hochhaus gefallen, auf Seife ausgerutscht oder einfach beim Verhör mit dem Kopf auf die Tischplatte geschlagen, wenn man den offiziellen Protokollen dieser dunklen Epoche glaubt. Den Tafelberg beim Namen zu nennen, war für die Untergrundkämpfer im Südafrika der achtziger Jahre zu gefährlich. Der rassistische Staatsapparat der Apartheid-Regierung war allgegenwärtig, die Geheimpolizei hörte Telefone ab und verwanzte Wohnungen. Getarnt als Wanderpartie gab die Einsamkeit des Berges Schutz.
Sein Widerstandskampf war lange vorhersehbar, die Geschichte des gläubigen Moslems, von den Apartheid-Behörden als „Coloured“ – farbiger Mischling – klassifiziert, ist beinahe identisch mit der einer Generation unterdrückter Jugendlicher.  Als Moosa im Stadtteil Surrey Estate, einer den Farbigen zugeteilten Siedlung genau an der Grenze zum „schwarzen“ Township Gugulethu, aufwuchs, tobte um ihn herum ein Jahr für Jahr intensiver werdender Rassenkrieg. Weiß gegen Nicht-Weiß. Doch als Coloured hat er sich dabei nie gesehen. „Ich sehe mich als Südafrikaner. Ich wurde hier geboren, ich kenne kein anderes Land und ich war bereit, mein Leben für dieses Land zu geben“, drückt Moosa die Haltung einer Generation aus. Die weiße Minderheitsregierung verlor in der Folge immer mehr die Kontrolle über eine militante, antirassistische Bewegung, die immer weniger zu verlieren hatte. Auch Moosa wollte nicht länger warten, nach der Schule begann der Befreiungskampf. Der ANC hatte aus dem Exil seine Anhänger aufgerufen, das Land unregierbar zu machen. „Wir haben das System jeden Tag aufs neue beschäftigt“, erzählt Moosa. „Einmal haben wir die Strände für uns zurück erobert, die Polizei hat uns hoch und runter gescheucht, aber es war ein lustiger Tag – ja, manchmal hatten wir Spaß.“ 1983, gerade 19 Jahre alt, fing er an, Steine auf die gepanzerten Polizei- und Armee-Transporter zu werfen, die die Townships terrorisierten und nicht selten wahllos auf Zivilisten feuerten. Im Mob stürmten die Jungs die Einkaufszentren der Weißen und schmissen die Waren aus den Regalen. Die Privilegierten sollten auch in ihren friedlichen Vorstadt-Villenvierteln merken, dass ein paar Kilometer weiter Krieg herrschte. „Unser Motto war ‚Niemand wird verletzt‘“, blickt Moosa zurück. Doch auch diese Zeit ging vorbei. Aus Steinen wurden Molotov-Cocktails und 1985 schließlich – nachdem er zuvor bereits mehrere Monate im Gefängnis gesessen hatte – Maschinengewehre.
„Umkhonto we Sizwe hat uns dann eine Karte gegeben und wir sind losgezogen, um das Ding in den Dünen bei Strandfontein auszugraben.“ Dort an der False Bay, der Bucht östlich des Kaps der Guten Hoffnung, wo heute Touristen nach Walen, Delfinen und Weißen Haien Ausschau halten, begann für Moosa ein neues Leben, der letzte Schritt in den Untergrund. „Das war das erste Mal, dass ich eine AK47 in meinen Händen hatte“, erzählt er. Auch Handgranaten und Haftbomben waren im Sand versteckt, militärisches Training allerdings gab es kaum. Ein ehemaliger Polizist schulte die Gruppe an den Gewehren, der Rest war reine Theorie. „Das kam zu einer Zeit, als wir uns danach gesehnt haben“, erinnert Moosa sich – und ist heute froh, dass er „gottseidank nie jemanden getötet“ habe. Ausgeschlossen war das allerdings nicht. Nach einer Nacht auf dem Tafelberg attackierte seine Zelle 1985 das Hauptquartier der berüchtigten Bereitschaftspolizei in Kapstadt. Mit Handgranaten zerstörten sie das Gebäude. „Wir haben so weit wie möglich versucht, keine Menschen umzubringen, aber wir sind das Risiko eingegangen“, gibt sich Moosa offen. Es war die letzte Aktion, einer der Männer wurde verhaftet, die anderen flohen vorübergehend nach Simbabwe.
Doch Moosa kehrte noch während der Apartheid zurück, wurde später Sicherheitschef des ANC in der westlichen Kapprovinz, beschützte in der Phase des Wandels unter anderem Chris Hani, den MK-Stabschef und späteren Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Südafrikas. „Welch brillanter Mann“, erinnert sich Moosa mit belegter Stimme. Im Empfangsraum seiner kleinen Sicherheitsfirma hängt ein Bild von Hani. Der Blick ist traurig, desillusioniert, die Linien im Hintergrund verschwimmen, ein wenig sieht es aus wie eine moderne Version von Munchs „Der Schrei“. 1993, nur ein Jahr vor dem endgültigen Ende der Apartheid, erschoss ein weißer Rassist Hani vor dessen Haus in Johannesburg. Es war ein Attentat das Südafrika erschütterte. Während Mandela bereits als Präsidentschaftskandidat für die ersten freien Wahlen 1994 feststand, galt der im Volk ungemein beliebte Hani stets als sein einzig legitimer Nachfolger an der Spitze des Staats. Noch heute tragen viele Südafrikaner sein Konterfei auf T-Shirts, Hani ist so etwas wie der Che Guevara vom Kap, ein Märtyrer und eine schmerzlich vermisste moralische Instanz im zunehmend in Korruption und Vetternwirtschaft versinkenden ANC.
Moosa wirkt heute selbst oft so enttäuscht und ernüchtert, wie Hani auf dem Gemälde. „Wofür hast du gekämpft Daddy, ich finde keinen Job“, fragen ihn die eigenen Kinder, die sich nicht sonderlich für die Geschichte des Freiheitskampfes interessieren. „Ich habe nicht für euch gekämpft, sondern für die Ärmsten“, entgegnet er dann mit einem Hauch von Pathos.  Er meint es ernst und er hat bis heute nicht damit aufgehört. Moosa hat die Hoffnung auf jenes bessere Leben für alle, das sein ANC einst versprochen hat, noch nicht aufgegeben. 2008 hat er mit alten Weggefährten das Struggle Veterans Action Committee gegründet. Der Verein kümmert sich um die Widerstandskämpfer, die von der Regierung und der offiziellen Organisation der MK-Veteranen nicht berücksichtigt werden, die großen und kleinen Straßenkämpfer, die wie er nie ein Armee-Training in den MK-Basen im Ausland durchliefen, sondern das System aus dem südafrikanischen Untergrund bekämpften. Mitgliedsausweise hatten sie dabei natürlich nicht, weshalb ihnen heute die Anerkennung verweigert wird. Für viele dieser Ex-Kämpfer habe sich „nichts geändert“, klagt Moosa, vielen ginge es sogar schlechter: „Das sind Menschen, die in Gefängnissen gefoltert und ohne Prozess weggesperrt wurden und viele von ihnen sind in einem schlechten psychischen Zustand. Niemand hat ihnen jemals Danke gesagt.“ Dabei waren sie es schließlich, die das verhasste Apartheid-Regime täglich in Atem hielten, ideologisch und materiell ausgerüstet von den Kadern im Exil, die später die Regierung übernahmen. „Der Kampf war hier“, sagt er bitter. „Wenn ich von Veteranen spreche, meine ich nicht nur die im Exil, die jahrelang rumlagen.“
Es sind Sätze wie diese, die die Hassliebe der einstiegen Freiheitskämpfer zur eigenen Bewegung deutlich werden lassen. Sie fühlen sich verraten, weil ihre politische Führung schon mit dem Feind verhandelte, als sie noch auf der Straße ihr Leben riskierten, weil sie zwar den Kampf und die Freiheit gewonnen haben, aber noch immer auf Sicherheit und Wohlstand warten. Moosa kritisiert die heutige Regierungspartei, aus der er zwischenzeitlich sogar enttäuscht ausgetreten war, scharf. Er macht den ANC verantwortlich für die ärmlichen, beengten Verhältnisse in den Townships des Landes. Es geht um den Verlust von Würde, wenn arbeitslose Eltern ihre Kinder nicht versorgen können, um zerbrochene Familienstrukturen und entwurzelte Jugendliche, die in den Armenvierteln im Sumpf aus Drogen und Bandenkriminalität versinken. „Wie können wir von unseren Kindern erwarten, in Schule und Uni gute Ergebnisse abzuliefern und nicht zu Kriminellen zu werden, wenn diese Umgebung Brutplatz für Gangs ist“, fragt er rhetorisch. Doch woher kommt der Verfall, diese schockierende Selbstaufgabe ganzer Gemeinschaften, die sich ihre Freiheit so hart erkämpfen mussten? „Apartheid war ein System, das uns zusammengebracht hat, das uns einen gemeinsamen Feind gab“, ringt Moosa nach Erklärungen und klingt dabei fast wie einer, der sich die guten, alten Zeiten zurück wünscht. „Heute ist es ein Survival of the Fittest, jeder kämpft für sich selbst.“
Natürlich sei die Demokratie noch jung und vieles auch schon erreicht. „Es steht mir heute frei, an der Strandpromenade zu spazieren oder im Bus unten zu sitzen“, beschreibt Moosa Selbstverständlichkeiten, die ihm einst wegen seiner Hautfarbe verwehrt waren. Dann zählt er auf: den freien Zugang zu Wasser und Strom für die Ärmsten, die Verfassung, die als eine der fortschrittlichsten der Welt gilt und das Wahlrecht für alle. „Aber es ist auch noch ein langer Weg. Es wäre naiv zu glauben, dass der Kampf 1994 aufgehört hat. Wir sagen immer ‚A luta continua‘.“ Dieses „Der Kampf geht weiter“ war der Schlachtruf der mosambikanischen Befreiungsfront FRELIMO, den der ANC übernommen hat. Für die vergessenen Freiheitskämpfer vom Tafelberg hat er nie an Bedeutung verloren.
Erschienen am 16. Dezember 2011 in der Westfälischen Rundschau.