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Nigeria versinkt in Gewalt

8. Mai 2012 – 10:19

Präsident Goodluck Jonathan wirkt gegen Terroranschläge hilflos – und ist Teil des Problems

In der Hauptstadt Abuja fuhr der Selbstmordattentäter seinen mit Sprengstoff beladenen Wagen am Donnerstag vor einer Woche direkt bis in die Rezeption der Zeitung „This Day“, drei Tage später explodierten während der Sonntagsmesse auf dem Universitätsgelände der nordnigerianischen Stadt Kano Bomben mehrere Bomben, in der Stadt Maiduguri im Nordosten des bevölkerungsreichsten Landes Afrikas eröffneten bewaffnete Attentäter in einer Kirche ihr tödliches Gewehrfeuer. Die Auflistung ist nicht vollständig, sie wird beinahe täglich durch neue Terrorakte erweitert. Über hundert Menschen sind so in den vergangenen anderthalb Wochen gestorben und auch wenn die Opferzahlen größtenteils ungesichert sind, wird deutlich, dass die trügerische Ruhe, die in Nigeria nach den Anschlägen der islamistischen Gruppe Boko Haram im Dezember und Januar herrschte, keine Zukunft hat. Das Land wirkt instabiler denn je und es stellt sich die Frage nach den Profiteuren.
“Das Ausmaß der Gewalt ist solange nicht gestiegen, bis der gegenwärtige Präsident erklärt hat, dass er zu den Wahlen antreten werde”, führt Andrew Owoye Azazi die Gewaltwelle auf die Wiederwahl des Präsidenten Goodluck Jonathan 2011 zurück. Azazi ist dabei nicht irgendein Analyst, er ist Nationaler Sicherheitsberater, von Jonathan 2010 selbst auf den Posten berufen. Azazi spricht von einer „Politik des Ausschließens“, die mächtige Kreise im muslimisch dominierten Norden des Landes an den Rand gestellt und schließlich zur Gewalt habe greifen lassen. Entsprechende Drohungen zumindest hatte es bereits vor Jonathans Wiederwahl gegeben, auch wenn von den Hintermännern nun nicht mehr die Rede ist und Boko Haram als relativ anonyme Gruppierung die Verantwortung für die Terroranschläge übernimmt.
Jonathan hatte das Präsidentenamt 2010 nach dem Tod seines Vorgängers Umaru Yar’Adua übernommen und in den Augen der nördlichen Eliten das ungeschriebene Gesetz gebrochen, nach dem sich bei allen Wahlen christliche und muslimische Kandidaten an der Staatsspitze abwechseln. Seine Schwäche beruht allerdings nicht nur auf der Vielzahl seiner unter religiösem Vorwand agierenden Feinde: Jonathan hat auch mit neoliberalen Marktöffnungen die trotz der großen Bodenschätze bitterarme Bevölkerung des Landes gegen sich aufgebracht – unabhängig der jeder Glaubensrichtung. Zum Jahreswechsel hatten tagelange Proteste gegen die Rücknahme von Benzinsubventionen das Land lahm gelegt, die einerseits günstige Transport- und Nahrungsmittelkosten garantierten, andererseits aber auch ein gigantisches Netzwerk von Korrupten Politik- und Wirtschaftszirkeln unterhielten – ein kürzlich veröffentlichter Report spricht von Veruntreuungen von umgerechnet über 5 Milliarden Euro. Ähnlich dürften die Interessenlagen bei den Agrarimporten gelagert sein. Nigeria gibt jährlich über 6 Milliarden Euro für Reis, Weizen, Zucker und Fisch aus, während 60 Prozent der eigenen Ackerfläche brach liegen. Die Öffnung der Märkte verdrängt so die verarmten Kleinbauern noch weiter, während reiche Eliten über dunkle Kanäle an den Lizenzvergaben für Importe verdienen sollen. In der Konsequenz kämpft Jonathan damit gegen zwei Gruppen gleichzeitig: Die mittellose Bevölkerung und die einflussreiche Herrschaftselite samt deren internationaler Kooperatoren, vornehmlich aus der Ölindustrie.
Für eine starke Rolle im Kampf gegen den Terror, die vom Präsidenten vor allem aus der Armee immer vehementer gefordert wird, scheint Jonathan daher zu schwach. Daran ändert auch die eilige Wiederaufnahme von Gesprächen mit den Nachbarländern über eine Wiedereinsetzung der multinationalen Sicherheitstruppe der Kommission des Tschad-See-Beckens wenig. Sollte Boko Haram Nigeria tatsächlich zerreißen droht zwar auch den Nachbarn wirtschaftliches und sicherheitspolitisches Unheil, doch das die internationale Zusammenarbeit eine schnelle Antwort geben kann, scheint dennoch fraglich. Die 1998 formal gegründete Truppe hat jedenfalls bis heute nie real existiert.

Erschienen am 8. Mai 2012 in junge Welt.