Südafrikas Polizei schießt wieder
16. November 2012 – 06:56Farmarbeiter stirbt bei Streiks im Westkap, Provinz-Premier will Armee einsetzen
Es war ein Satz, ausgesprochen im Eifer eines per Telefon zugeschalteten Fernseh-Interviews, der die ganze Tragik der Streikwelle in Südafrika zusammenfasste. Als Helen Zille, Premierministerin der Provinz Westkap, gefragt wurde, wie es zu den tödlichen Polizei-Schüssen auf einen 28-jährigen Farmarbeiter am Mittwochmorgen gekommen sei, wollte sie den Vorfall zunächst gar nicht kommentieren. „Es ist ziemlich ungewöhnlich, dass nur eine Person gestorben ist“, schob die führende Politikerin der Democratic Alliance (DA) dann nach. Sie wird die Umstände gemeint haben, das Chaos, die wütenden Farmarbeiter, die brennenden Weinfelder, die umgestürzten Polizeifahrzeuge. Und Zille hat sicherlich auch an Marikana gedacht, jene verarmte Bergbausiedlung nordwestlich von Johannesburg, wo die beispiellose Streikwelle begonnen hat, die nun auch die südafrikanische Landwirtschaft von Tag zu Tag im größeren Ausmaß lahm legt. Verglichen mit dem dortigen Polizei-Massaker, dem im August 34 Bergarbeiter zum Opfer fielen, war es in dem kleinen Dorf Wolseley, 115 Kilometer nordöstlich von Kapstadt tatsächlich „nur“ ein Toter. Dass der Region jetzt ein Flächenbrand droht, scheint Zille allerdings selbst zu wissen. Noch im selben Interview forderte sie die Regierung auf, die Armee in die bestreikten Gebiete zu entsenden.
Seit die Arbeiter auf den Tafeltraubenfeldern der Kleinstadt De Doorns vor vor zwei Wochen in den Streik getreten sind, tobt auf ihrem Rücken eine politische Schlammschlacht. Der landesweit regierende African National Congress (ANC) wirft Zilles DA vor, sich nur für die Interessen der Farmer einzusetzen. Die DA spricht den Streiks dagegen zunächst die Authentizität ab, behauptet der ANC und der Gewerkschaftsbund COSATU hätten die Aufstände inszeniert um daraus politischen Nutzen zu ziehen und schiebt die Schuld dann letztendlich doch der Arbeitsministerin Mildred Oliphant in die Schuhe. Die habe schließlich den Mindestlohn in der Landwirtschaft festgelegt. Was sich in Südafrika derzeit abspielt ist eine grässliche Farce – und eine explosive Mischung aus völlig verarmten und entrechteten Landarbeitern, sturen Landbesitzern und politischen Opportunismus der beteiligten Parteien, die den Streik haben eskalieren lassen. Bei 69,39 Rand liegt der Mindesttageslohn für Farmarbeiter zurzeit, umgerechnet 6,14 Euro, doch etliche der Streikenden beklagen, dass ihre Löhne bei nur 60 bis 65 Rand liegen. Neun Stunden arbeiten sie dafür offiziell auf den Feldern, tatsächlich jedoch oft wesentlich länger. Wer gegen die Hungerlöhne aufsteht oder versucht, sich gewerkschaftlich zu organisieren, muss mit der Kündigung rechnen. „Sie scheuchen uns wie Hunde“, klagt der Farmarbeiter Johannes Klaasen und sein Kollege Koos Willemse berichtet von Arbeitseinsätzen in den frisch mit Chemikalien besprühten Weinfeldern – „während die Blätter noch nass sind“.
Die Farmarbeiter berichten von Arbeits- und Lebensbedingungen, die an Frondienst und Sklaverei erinnern. Dabei wissen einige von ihnen sehr wohl auch, dass Lokal-Politiker des ANC über Leiharbeitsfirmen am Elend verdienen – und mit dem Streik auch ihren eigenen Einfluss an der Basis manifestieren wollen. Währenddessen weiten sich die Arbeitskämpfe aus, 16 Regionen des Landes sind inzwischen betroffen, Obstfarmen und Weinfarmen gleichermaßen. Wie die Bergleute kämpfen auch die Farmarbeiter aus purer Verzweiflung um bessere Lebensbedingungen und Zukunftschancen für ihre Kinder. 150 Rand (13,26 Euro) verlangen sie dafür, die Farmbesitzer bieten kaum mehr als die Hälfte. Für einen Übergangslohn von 80 Rand am Tag, so sieht es auch der Plan der Regierung Zuma vor, sollen die Farmarbeiter nun für die nächsten zwei Wochen auf die Felder zurückkehren. In der Zwischenzeit soll Arbeitsministerin Oliphant einen neuen Mindestlohn ausarbeiten. Ob die Arbeiter mitmachen, bleibt abzuwarten. Ohne Geld und Essen könnten sie vorerst dazu gezwungen sein. Die Alternative, das ist in Südafrika nicht erst seit den tödlichen Schüssen vom Mittwoch klar, ist eine eskalierende Welle der Gewalt.
Erschienen am 16. November 2012 in junge Welt.