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Südafrikas soziale Zeitbombe explodiert im Kugelhagel der Polizei

18. August 2012 – 10:38

Insgesamt 35 Tote bei Streik in Platinmine/ Bergarbeitergewerkschaft hilflos und in politischen Machtkämpfen verstrickt

Das Gefecht dauerte nur drei Minuten und es hätte ungleicher kaum sein können. Einer von tausenden streikenden Bergarbeitern der Marikana Platin-Mine in der südafrikanischen Provinz North West, die sich mit Macheten, Speeren und Stöcken bewaffnet auf einem Hügel nahe des Bergwerks versammelt hatten, soll am Donnerstagnachmittag nach unbestätigten Presseberichten eine Flinte gezogen haben. Sie sei zuerst beschossen worden, sagt auch die Polizei, deren schwer bewaffnete Einheiten schließlich scharfe Munition feuerten. Als sich Feuerrauch und Staub gelegt hatten, zählte ein Reporter der südafrikanischen Nachrichtenagentur SAPA die leblos am Boden liegenden Körper der Kumpel. Er sah 18 Leichen, ein Sprecher der Gesundheitsbehörde korrigierte die Zahl der Todesopfer gestern gar auf 25. Insgesamt hat der seit einer Woche andauernde Konflikt bereits 35 Menschen das Leben gekostet, darunter auch zwei Polizisten und zwei Sicherheitsleute. Die streikenden Arbeiter fordern eine Anhebung ihrer Gehälter von derzeit umgerechnet 400 bis 600 Euro auf 1250 Euro. Die Ursachen für den wohl blutigsten Arbeitskampf seit Ende der Apartheid 1994 liegen allerdings wesentlich tiefer. Auf jenem schicksalhaften Hügel nahe der Marikana-Mine entlud sich auch die perspektivlose Wut der Kumpel auf die ihnen entrückte Nationale Bergarbeitergewerkschaft (NUM) und die eigenen miserablen Lebensumstände.

„Das Management unterstützt NUM, die schlafen in einem Bett mit NUM“, griff der Präsident der neuen, radikalen Konkurrenz-Gewerkschaft AMCU, Joseph Matunjwa, nicht nur den Minenbetreiber Lonmin an. Die Vorwürfe der Bergarbeiter, die sich in ihrem wilden Streik vielfach entweder AMCU anschließen oder gar keinen organisierten Vertretungen mehr folgen, richten sich vor allem gegen die konzernfreundliche Politik NUMs. Diese Konfliktlinie trat bereits im Januar beim weltweit zweitgrößten Platin-Produzenten Impala Platinum zu Tage: Auch dort starben drei Menschen, auch dort war der Streik wie jetzt in Marikana nicht von der mandatstragenden NUM gedeckt und auch dort griffen die Bergarbeiter und AMCU-Offiziellen die Lethargie der Alteingesessenen an. Letztendlich konnte erst Zwelinzima Vavi, der charismatische Generalsekretär des Gewerkschaftsbundes COSATU, die Situation beruhigen. Vavi wies in seinem für den COSATU-Kongress in vier Wochen vorbereiteten Politischen Report nun bereits darauf hin, dass die Gewerkschaftsführung aufgrund „unterschiedlichen Lebensumstände und materiellen Realitäten“ nicht auf einer Wellenlänge mit der Situation der Mitglieder“ sei. Krisen wie in den heruntergekommenen staatlichen Krankhäusern, bei der Auslieferung von Schulbüchern, winterlichen Stromausfällen und Wasserabstellungen in armen Haushalten, seien nicht ausreichend aufgegriffen worden, warnte Vavi. Offensichtlich zu spät.

Wer das derzeitige Dilemma der seit dem Befreiungskampf der 80er Jahre traditionell verankerten Bergbaugewerkschaft NUM aber ganz verstehen will, muss in zwei Richtungen schauen: Auf den globalen Automobilmarkt und ins Luthuli House, das 100 Kilometer südwestlich von Marikana in der Johannesburger Innenstadt gelegene Hauptquartier der Regierungspartei ANC. Der erste Blick ist schnell erklärt, denn im Zuge der globalen Wirtschaftskrise sank mit der Fahrzeugproduktion auch der Platinbedarf und somit der Preis auf dem Weltmarkt – lediglich die Streiks vom Januar beim weltweit zweitgrößten Förderer des Edelmetalls, Impala Platinum, und jetzt bei der Nummer drei, Lonmin, verhalfen zu kurzen Anstiegen, weil in Südafrika rund 80 Prozent der bekannten weltweiten Vorkommen lagern.

Der zweite Erklärungsansatz ist weitaus komplizierter, eine Klärung frühestens im Dezember in Sicht. Dann trifft sich in der in Südafrika politisch allmächtige ANC, die einstige Befreiungsfront und jetzige tief gespaltene Regierungspartei, zu ihrem alle fünf Jahre stattfindenden Wahlkongress. Es geht dann um die Frage, ob Jacob Zuma an der Spitze der Partei bleibt – was bei landesweiten Präsidentschafts-Wahlergebnissen von immer mehr als 60 Prozent nahezu gleichbedeutend mit einer zweiten Amtszeit als Staatspräsident wäre. Der Gewerkschaftsbund COSATU, mit zwei Millionen gut organisierten und stets streikbereiten Mitgliedern wichtigster Bündnispartner des ANC, könnte dann zu Zumas schärfstem Widersacher werden. Insbesondere Vavi wird von einigen Analysten sogar als Gegenkandidat gehandelt, seine direkten Angriffe gegen die Vernachlässigung der Sozialpolitik und die immer deutlicher zutage tretende Korruption im ANC haben ihm in der Bevölkerung viele Punkte eingebracht.

Doch COSATU ist selbst gespalten, ein Teil der Gewerkschaftsführung, darunter auch die NUM-Spitze hält noch immer zu Zuma. Jeder deutliche Schritt könne als „Unterstützung für die eine oder andere Fraktion“ interpretiert werden, wie es der stellvertretende Chefredakteur der einflussreichen südafrikanischen Wochenzeitung Mail&Guardian beschreibt. Das Resultat ist eine fatale Lähmung, die die Bergarbeiter kopflos sich selbst überlässt. Im Zusammenspiel mit der prekären Lebenssituation der großen Mehrheit der Südafrikaner ist das eine Zeitbombe, deren Explosion in Marikana nicht die letzte gewesen sein könnte.

Erschienen am 18. August 2012 in den Stuttgarter Nachrichten.